In Wien ist Volker Türk, UN-Kommissar für Menschenrechte, um an den Veranstaltungen zum 30. Jahrestag der Weltkonferenz über Menschenrechte in der Bundeshauptstadt teilzunehmen.

Zwischen zwei solchen Terminen war der aus Österreich stammende hohe Vertreter der Vereinten Nationen in der Barocksuite im Museumsquartier zu einem Interview bereit – über die von der ÖVP in der Bundesregierung unterstützten Auslagerungspläne von Asylverfahren aus der EU, die menschenrechtliche Verrohung im russischen Angriffskrieg in der Ukraine und die Chancen für einen menschenrechtlichen Neuaufbruch.

STANDARD: Heute tagen die EU-Innenminister in Luxemburg. Ein zentraler Punkt dabei ist das EU-Asylsystem – und hier die Überlegung, an der Unionsaußengrenzen künftig schnelle Asylverfahren durchzuführen. Was sagen Sie zu diesen Plänen?

Türk: Das ist eine komplexe völkerrechtliche Materie. Auf alle Fälle müssten bei Grenzverfahren die Flüchtlings- und Menschenrechte gewahrt werden. Das heißt, es muss die Möglichkeit geben, wirklich einen Asylantrag zu stellen. Wir haben in der EU schon viele Vorschläge erlebt, wie man zu einem besseren Asylsystem kommen könnte, Verteilungsmechanismen von Flüchtlingen haben leider nicht so gut funktioniert.

STANDARD: Das verstehe ich jetzt nicht. Sie haben der APA ein Interview gegeben und Kritik von Innenminister Karner eingeheimst. Er habe wenig Verständnis für Ihre Aussagen, denn es brauche einen funktionierenden Grenzschutz, Schnellverfahren an der EU-Außengrenze sowie Diskussionen über Asylverfahren in sicheren Drittstaaten. Nun lehnen Sie EU-Grenzverfahren per se gar nicht ab. Was ist da geschehen?

Türk: Ich wurde in dem Interview gefragt, was ich zu Abschiebungen nach Syrien und Afghanistan sage und habe geantwortet, dass das menschenrechtlich derzeit ein No-Go ist. Und ich habe schwere Bedenken gegen Asylverfahrensauslagerungspläne in Drittstaaten geäußert, wie sie Großbritannien in Ruanda plant. Ich hoffe, dass es innerhalb der Europäischen Union das Bewusstsein gibt, dass es beim Asylrecht rote Linien gibt, die man beachten muss. Aber ich weiß, leicht lösbar ist das alles nicht. Es gilt, das Schlepperwesen und den Menschenhandel zu bekämpfen und gleichzeitig sicherzustellen, dass Flüchtlinge und Schutzbedürftige Schutz finden.

Flüchtlinge in einem Hotspot-Aufnahmelager auf Lampedusa: Die Gretchenfrage ist, ob Schutzsuchende wirklich die Möglichkeit haben, Asyl zu beantragen, sagt Volker Türk.
AFP/Alessandro Serrano

STANDARD: Glauben Sie, dass EU-Außengrenzverfahren menschenrechtlich akzeptabel funktionieren können? Vor eineinhalb Wochen hat die "New York Times" gezielte Entführungen und Aussetzungen von Flüchtlingen auf dem Meer aufgedeckt.

Türk: Das ist ein Ausdruck von Verrohung. Wie mit Ausländern umgegangen wird, hat Einfluss darauf, wie über kurz oder lang mit allen Menschen in der Gesellschaft umgegangen wird. Es geht um den Respekt der Würde jedes Menschen. Im Auftreten gegen den Rassismus heißt es immer 'Wehret den Anfängen'.

STANDARD: Warum werden Flüchtlinge in den reichen Teilen der Welt so besonders abgelehnt – und im Globalen Süden offenbar weniger? Vor den Kämpfen im Sudan sind knapp über eine Million Menschen in den Südsudan geflohen und wurden dort  aufgenommen.

Türk: Ohne Probleme funktioniert das dort auch nicht, obwohl der Südsudan vor der Unabhängigkeit lang zum Sudan gehört hat und die jetzt fliehenden Menschen Nachbarn sind. Aber was soll eine Regierung in Ostafrika machen, wenn eine Million Menschen über die Grenze kommt? Was stimmt ist, dass in Teilen der Welt akzeptiert wird, wenn Leute ankommen und dass diese aufgenommen werden. Meist jedoch in Lagern, was aus heutiger Sicht keine gute Idee ist.

STANDARD: Kriegerische Auseinandersetzungen wie im Sudan sind ein Hauptgrund für die Fluchtbewegungen. Das ist auch in der Ukraine so, wo vor zwei Tagen der Kachowka-Damm gesprengt wurde. Zehntausende Menschen mussten ihre Häuser verlassen, haben ihre Existenz verloren und werden jetzt wohl zu Binnenflüchtlingen. Hat diese Rücksichtslosigkeit in den vergangenen Jahren zugenommen?

Türk: Nach den Erfahrungen mit den Kriegen des 19. Und 20. Jahrhunderts wurde vor mehr als 75 Jahren die UNO gegründet, um Lehren aus der Geschichte zu ziehen und diese Art von atavistischem Denken zu überwinden. Jetzt ist es wieder durchgebrochen. Tatsächlich schöpfen Russland und die ukrainische Verteidigung derzeit ihre gesamten Gewaltmittel aus. Auf Seiten der Ukraine ist das auch verständlich. Ein Aggressionskrieg wie die russische Invasion ist völlig menschenrechtswidrig. Es ist schockierend, dass im 21. Jahrhundert auf europäischem Boden wieder so ein Krieg stattfindet.

STANDARD: Was passiert im Krieg mit den Menschenrechten?

Türk: Sie fallen der Verrohung zum Opfer – denn was geschieht? Wer kann, geht. Was aber machen gehbehinderte ältere Menschen, schwangere Frauen, schwer chronisch Kranke? Viele von ihnen müssen wohl oder übel bleiben, auch in den gefährlichen Gegenden. Wir müssen uns vor Augen halten, was das für sie konkret bedeutet, zu was für Bildern das führt, um zu begreifen, was Krieg bedeutet.

STANDARD: Aus Teilen der Friedensbewegung kommt der dringende Appell, den Krieg in der Ukraine so rasch wie möglich zu beenden, und sei es um den Preis von Gebietsverlusten für die Ukraine. Am kommenden Wochenende sollte in Wien ein Summit stattfinden, der laut Einladungstext beide Seiten zur Beendigung der Kriegshandlungen auffordert, aber eine zentrale Forderung, den Rückzug Russlands, nicht stellt. Wie schätzen Sie eine solche Initiative ein?

"Meine große Sorge ist, dass die Menschenrechte zu einem Kollateralschaden der aktuellen geopolitischen Veränderungen werden." Volker Türk

Türk: Es sollte klar sein, dass die die Ukraine Opfer einer Aggression ist, die laut den Satzungen der Vereinten Nationen einen extrem schweren Bruch des Völkerrechts darstellt. Zu welchen Bedingungen ein Frieden möglich ist, müssen die Ukrainer entscheiden. Da kann ihnen niemand irgendetwas hineinreden.

STANDARD: Die heutigen Kriege sind auch Ausdruck sich verändernder weltweiter Machtblöcke. Welche Folgen hat das für die Menschenrechte?

Türk: Meine große Sorge ist, dass die Menschenrechte zu einem Kollateralschaden der aktuellen geopolitischen Veränderungen werden. Dass es sie zwischen den Spannungsfeldern Russland, dem Westen, dem globaler Süden, China, USA zerreibt. Das darf nicht geschehen, denn sie sind neben Sicherheit und Frieden sowie Entwicklung eine von drei Grundsäulen der Vereinten Nationen.

Volker Türk: Anlässlich von 30 Jahren Wiener Menschenrechtskonferenz warnt der hohe UN-Vertreter und Österreicher vor zunehmender globaler Verrohung.
APA/Eva Manhart

STANDARD: Was tun, um das abzuwenden?

Türk: Als UN-Menschenrechtskommissar merke ich, dass junge Menschen, auch Kinder, sehr an Klima- und Umweltthemen sowie Menschenrechten interessiert sind. Die Generation Z ist sehr politikbewusst. Wir erleben derzeit die Überschneidung von drei globalen Umweltkrisen, die sogenannte Triple Planetary Crisis: Klimawandel, Umweltverschmutzung und Verlust der Artenvielfalt. Das ist ein Wendepunkt, der im Bewusstsein der Menschheit eine Rolle spielen muss, so wie der fantastische Moment vor 75 Jahren, als die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verabschiedet wurde, und wie die Wiener Menschenrechtskonferenz vor 30 Jahren, als dieser Grundkonsens weltweit weitergetragen wurde. Ich hoffe, dass wir angesichts der heutigen Lage wieder eine globale Bewegung für die Menschenrechte entfachen können.

STANDARD: Was heißt das konkret?

Türk: Es muss um Fragen gehen, die uns Menschen zusammenbringen. Wie wir mit der Natur umgehen und wie mit dem Staatswesen. Wichtig ist das Zusammenspiel zwischen Bürgerinnen und Bürgern, Zivilgesellschaft und den Institutionen des Staates. Heute gewinnt man manchmal den Eindruck, dass wir den Institutionen des Staates zu dienen haben. In Wahrheit ist es umgekehrt: Die Institutionen des Staates haben den Menschen zu dienen. Das ist die Kraft der Menschenrechte. (Irene Brickner, 8.6.2023)

Der Jurist Volker Türk wurde 1965 in Linz geboren. Seit 1991 arbeitet er bei den Vereinten Nationen, war unter anderem in Kuwait, Malaysia, im Kosovo, in Bosnien-Herzegowina und der Demokratischen Republik Kongo im Einsatz. Seit 17. Oktober 2022 ist er der Hohe Kommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte.