Gurr-gurr-gurr, gurr-gurr macht es im Wald – und Benjamin Seaman macht ein Stricherl in sein rotes Notizheft. Zeile: Ringeltaube. Spalte: Gesang. Eine Motorsäge brummt, der Wind bläst, ein Hund bellt, das nahende Gewitter donnert, aber Seaman hört ein Zwitschern. Ein Stricherl bei Kohlmeise. Spalte: rufend. Seaman steht auf einer kleinen Lichtung in einem Wald in Wien-Döbling, er lauscht und schaut, hochkonzentriert. Dann bemerkt er eine Bewegung, greift zum Fernglas, das ihm um den Hals hängt – und erkennt einen Buchfinken. Zeile: Buchfink. Spalte: visuell. 

In seinem Notizbuch macht Benjamin Seaman ein Stricherl für jeden Vogel, den er wahrnimmt.
In seinem Notizbuch macht Benjamin Seaman ein Stricherl für jeden Vogel, den er wahrnimmt.
Christian Fischer

Seaman ist einer von wenigen Menschen in Österreich, die in ihrem Job zählen. Also: Händisch zählen – eins, zwei, drei. Der Ornithologe arbeitet für Birdlife Österreich, eine Organisation, die Vögel beobachtet. Für 78 hier brütende Arten gibt es valide Trendberechnungen, Seaman kennt sie alle und erkennt sie alle – an ihrem Aussehen, an ihrem kurzen Ruf oder an ihrem längeren, melodiöseren Gesang.

Je wichtiger, desto maschineller

Wenn er bei einer Zähltour einen der Vögel registriert, macht er ein Stricherl in sein Heft. Bei seiner zweiten Zählung an diesem Tag notierte er in fünf Minuten: zwei Ringeltauben, drei Kohlmeisen, drei Buchfinken, ein Buntspecht, eine Aaskrähe, ein Rotkehlchen, eine Amsel, ein Halsbandschnäpper. Die Zahlen stimmen. Zu Hause angekommen, wird es digital: Seaman überträgt die Daten in eine professionell angelegte Excel-Tabelle, später verknüpft er sie mit Zahlen aus ganz Österreich. Daraus berechnet Birdlife jedes Jahr Trends für alle gezählten Arten: von welchem Vogel es mehr gibt, von welchem weniger.

Wir lernen schon im Kindergarten zu zählen, und im Alltag machen wir es ständig: Eier beim Backen, Bierflaschen beim Einkaufen, Unterhosen beim Packen. Aber beruflich zählen wir immer weniger – dort, wo richtige Zahlen wichtig sind, übernehmen den Job längst Maschinen. Das zeigt allein die Liste der zählenden Organisationen, die für diese Reportage nicht zur Verfügung standen: Computer zählen Gemüse, bevor es verpackt wird. Sie zählen Fahrräder auf Radwegen. Sie zählen die Schrauben, die unsere Möbel zusammenhalten. Faustregel: Je wichtiger es ist, dass die Zahl stimmt, desto weniger haben Menschen damit zu tun.

Plastiksackerl voller Geld

Geld ist besonders wichtig. In einer Halle irgendwo in Österreich rattern Geldscheine stapelweise durch Maschinen. Das Geld kommt etwa von Supermärkten hierher in die Hochsicherheitszone der Wertlogistik Gmbh, einer Tochterfirma der Post. Wo genau wie viele Euros landen, soll aus Sicherheitsgründen nicht erwähnt werden. Hinter einer Reihe von Schleusen und Kontrollen sitzen sieben Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an ihren Schreibtischen in einem fensterlosen Raum. Überall stapeln sich spezielle Plastikbehälter. Die Angestellten scannen Strichcodes auf Plastiksackerln voller Geld, schlitzen die verschweißten Beutel mit Stanleymessern auf, nehmen die Scheine heraus und legen sie in die Zählmaschine. 

Die Maschine macht ihren Job: Sie zählt die einzelnen Scheine in Sekundenbruchteilen und spuckt eine Summe aus. Auf einem Bildschirm sehen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – die meisten von ihnen sind Frauen –, ob die Summe mit jener übereinstimmt, die hinter dem Strichcode vermerkt ist. Sind die Zahlen nicht dieselben, muss der Zähler oder die Zählerin sofort reagieren: Dafür liegt ein A4-Zettel in einer Klarsichthülle auf jedem Arbeitsplatz, auf dem in Blockbuchstaben "Differenz" steht – der muss dann in die Kamera gehalten werden, die jeden Arbeitsschritt hier festhält.

Differenz? Alarm!

Das kommt immer wieder vor. Denn das Geld in den Geschäften, die ihr Geld der Wertlogistik übergeben, wird oft noch von Hand gezählt – und ein Mensch verzählt sich viel öfter als eine Maschine. Ist der "Differenz"-Alarm aktiviert, geht die Firma auf die Suche nach dem Fehler. Und findet ihn auch immer. Das System ist lückenlos, erklärt Geschäftsführer Wolfgang Pfarl.

"Am Anfang war es noch aufregend, mit so viel Geld zu arbeiten", sagt eine der Frauen, die hier arbeiten. "Aber mit der Zeit wird es normal. Es ist halt buntes Papier."

230 Vogelzähler in ganz Österreich

Im Döblinger Dorotheerwald ist Vogelzähler Benjamin Seaman beim nächsten Zählpunkt angelangt. Er und seine zählenden Kolleginnen und Kollegen beobachten die Vögel jedes Jahr an den exakt gleichen Plätzen, damit möglichst alles gleich ist – und nur die Vögel sich verändern. Seaman nimmt sein Handy aus der Hosentasche und stellt den Timer auf fünf Minuten. In genau diesem Zeitraum zählt er. Die normalen Messzeiträume zwischen April und Anfang Juni sind schon vorbei, für den STANDARD zählt Seaman noch eine Ehrenrunde.

Benjamin Seaman von Birdlife Österreich zählt Vögel.
Benjamin Seaman von Birdlife Österreich zählt Vögel.
Christian Fischer

In die Trendberechnungen von Birdlife fließen seine heutigen Zählungen nicht ein, der Beobachtungszeitraum wäre ja falsch. Die Qualität seiner Daten ist für Seaman das höchste Gut. Er sammelt nicht nur seine eigenen Stricherln, sondern führt auch die Zählungen von 230 großteils ehrenamtlichen Vogelzählerinnen und Vogelzählern aus ganz Österreich zusammen – Seaman nennt sie und sich selbst liebevoll "Ornis". Viele senden selbst fertige Excel-Dateien, die Seaman nur noch verknüpfen muss. Andere schicken ausgefüllte Erhebungsbögen mit der Post.

Ein Feldsperling macht sich bemerkbar.
Ein Feldsperling macht sich bemerkbar.
Christian Fischer

"Wir prüfen die Daten auf Plausibilität", sagt Seaman. Im Zweifelsfall werden Zahlen von der Untersuchung ausgeschlossen. Mit kleineren Abweichungen muss Seaman aber immer rechnen – nicht jede und jeder hört schließlich jeden Vogel gleich gut. Einzelne Ungenauigkeiten beeinflussen die Trendberechnung aber nicht über Gebühr. 

Achtarmiger Roboter spuckt Münzpackerln aus

Bei der Post Wertlogistik soll alles auf den Cent stimmen, das gilt auch für die Münzzählung, wo vor allem Männer arbeiten. Sie kippen den klimpernden Inhalt schwarzer Boxen, die vor allem von Automatenbetreibern geliefert werden, in eine Schütte. Wieder zählt eine Maschine das Geld, wieder kontrolliert der Computer, ob der Ist- mit dem Sollwert übereinstimmt. Wenn der Wert registriert ist, rutschen die Münzen in Rollwagerl voller gleichartiger Münzen. Wünscht ein Kunde fertig abgepacktes Bargeld einer bestimmten Summe, holt sich ein achtarmiger Roboter aus den Wagerln, was er braucht, stellt die gewünschte Summe zusammen und spuckt sie in Plastik verschweißt aus.

Die Wertlogistik zählt nicht nur Geld. Sie arbeitet eben mit allem, was Wert hat – überall, wo es auf sichere Verwahrung, Diskretion und genaues Zählen ankommt. Die Firma ist offen für alle möglichen Aufträge, bei denen es auf exaktes Zählen ankommt. "Wir stehen auch – ganz im Ernst – bereit, wenn Parteien uns zum Beispiel für die Auswertung interner Wahlgänge brauchen", sagt Geschäftsführer Pfarl. (Sebastian Fellner, 10.6.2023)