Polizei, Annecy, Frankreich
Die Polizei untersucht den Tatort.
EPA/JEAN-CHRISTOPHE BOTT

Stefan Brändle aus Paris

Es war ein sonniger Morgen, als der Horror über die hübsche Savoyerstadt Annecy hereinbrach. Ein junger Mann, laut Behördenquellen ein syrischer Flüchtling, griff im Stadtpark nahe beim See mehrere Erwachsene und Kinder mit einem Messer an. Vier ungefähr dreijährige Buben und Mädchen wurden zum Teil in ihrem Kinderwagen attackiert. Ein zweijähriger Bub wurde mit lebensbedrohlichen Verletzungen ins Spital eingewiesen. Auch seine Schwester wurde verletzt. Ein englisches Mädchen mit drei Jahren und ein deutscher Bub mit zwei Jahren wurden laut dem Fernsehsender BFM gerettet. Auch ein über 70-jähriger Mann wurde wie zwei weitere Erwachsene verletzt.

In einem Privatvideo war zu sehen, wie der Täter von zwei Männern auf der Parkwiese verfolgt wurde. Er versuchte die Verfolger zwar abzuschütteln, rannte aber nicht davon. Die Polizei war nur vier Minuten nach dem Angriff zur Stelle und nahm den mutmaßlichen Täter fest. Dabei soll es sich um einen syrischen Flüchtling mit den Initialen A.H. handeln. Der 31-jährige Mann soll vor zehn Jahren nach Europa gekommen sein und in Schweden nach mehrjährigem Aufenthalt 2022 den Status eines Flüchtlings erhalten haben. Er soll mit einer Schwedin verheiratet sein und mir ihr ein Kind haben.

Tatmotiv unklar

Ungeklärt war vorerst das Tatmotiv. Bei der französischen Polizei war der Angreifer offenbar nicht als radikalisiert registriert. "Wenn er ein Jihadist war, warum war er dann nicht schon in den letzten zehn Jahren in Europa zur Tat geschritten?", fragte eine TV-Kommentatorin. Dem Vernehmen nach soll der Mann mit dem arabisch klingenden Namen ein christliches Kreuz auf der Brust getragen haben. In seinem Asyldossier gab er sich als syrischer Christ aus, auch die frühere Ehefrau des Verdächtigen erklärte gegenüber TV-Sendern, ihr ehemaliger Partner bekenne sich zum Christentum. Viele Kommentatoren mutmaßten deshalb eher über eine Geistesstörung als einen islamistisch motivierten Angriff.

Der Angriff versursachte in Frankreich jedenfalls einen Aufschrei. "Sich an Kindern zu vergreifen, berührt etwas Unbeschreibbares", twitterte Bildungsminister Pap Ndiaye. Präsident Emmanuel Macron sprach von einem Akt "absoluter Feigheit". Premierministerin Elisabeth Borne und Innenminister Gérald Darmanin reisten noch am Donnerstagnachmittag nach Annecy.

In Paris legte die Nationalversammlung unmittelbar nach Bekanntwerden der Untat eine Schweigeminute ein. Der Abgeordnete der Macron-Partei Renaissance in Annecy, Antoine Armand, sprach von einem "Angriff auf die Menschheit und unsere Seele".

An politischen Kommentaren mangelte es ebenso wenig. Die Rechtspopulistin Marine Le Pen äußerte "Entsetzen und Horror". Der frühere Rechtskandidat bei den Präsidentschaftswahlen von 2022, Eric Zemmour, polemisierte: "Unsere Kinder sind in Todesgefahr, aber wir schauen weg. Bis wann?" Nach Bekanntwerden der Konfession des Täters wurden die Wortmeldungen von rechts etwas rarer. (Stefan Brändle aus Paris, 8.6.2023)