Luxemburg/Wien – Nach jahrelangem Ringen haben sich die EU-Staaten auf eine Verschärfung der EU-Asylregeln verständigt. Konkret ging es bei den EU-Innenministern am Donnerstag in Luxemburg um die Verteilung von Asylsuchenden in der Europäischen Union sowie um Vorprüfungen von Asylanträgen an der EU-Außengrenze. Die Pläne sollen nach Angaben der EU-Kommission auch weitreichende Kooperationsprojekte mit Nicht-EU-Ländern ermöglichen.

Der Kompromiss sieht vor allem einen deutlich rigideren Umgang mit Menschen ohne Bleibeperspektive vor. So sollen ankommende Menschen aus als sicher geltenden Ländern künftig nach dem Grenzübertritt unter haftähnlichen Bedingungen in streng kontrollierte Aufnahmeeinrichtungen kommen. Dort würde dann im Normalfall innerhalb von sechs Monaten geprüft werden, ob der Antragsteller Chancen auf Asyl hat. Wenn nicht, soll er umgehend zurückgeschickt werden.

Diakonie-Direktorin: "Menschenrecht auf Asylverfahren ausgehöhlt"

Deutliche Kritik an den Plänen kam unterdessen von mehreren NGOs. "Durch die Schnellverfahren an der EU-Außengrenze wird das Menschenrecht auf ein faires Asylverfahren ausgehöhlt", kritisierte Diakonie-Direktorin Maria Katharina Moser. Das Leid von Menschen auf der Flucht werde sich durch die Einigung in Luxemburg weiter verschärfen, hieß es vonseiten der Ärzte ohne Grenzen.

Gefängnisartige Camps wie auf den griechischen Inseln würden zum Standard auf europäischem Boden, so die NGO. Schutzsuchende Erwachsene und Kinder seien dort isoliert und eingesperrt und erhielten keine angemessene medizinische Versorgung. Darüber hinaus sei es absolut unmenschlich, wenn Schutzsuchende an der EU-Außengrenze in Drittstaaten zurückgeschoben werden könnten, in denen sie nicht ausreichend geschützt seien. "Damit wird die Auslagerung von Verantwortung im Stile des EU-Türkei-Deals in europäisches Recht gegossen werden", hieß es in der Stellungnahme von Ärzte ohne Grenzen weiters. Die Anerkennungsquote von Grenzverfahren sei fünfmal niedriger als jene regulärer Asylverfahren. Und: "Es drohen gefängnisartige Lager an Außengrenzen."

Die von den EU-Innenministern erzielte Einigung erinnere "stark an das Hotspotmodell, das wir aus Griechenland kennen und das schon einmal gescheitert ist. Das Konzept ist immer das gleiche. Wir fragen uns: Warum soll das, was schon einmal nicht funktioniert hat, jetzt in abgewandelter Form funktionieren?", sagte Diakonie-Direktorin Moser. Zumindest Familien mit Kindern und unbegleitete minderjährige Flüchtlinge müssten von den Schnellverfahren unter haftähnlichen Bedingungen ausgenommen werden, so die Forderung der Diakonie. Für sie und andere vulnerable Personen müssten humanitäre Korridore eingerichtet werden, um sichere Fluchtmöglichkeiten zu schaffen.

Expertin sieht kein vollwertiges Asylverfahren gegeben

Von einer "Aushöhlung des Asylrechts" spricht auch die Migrationsforscherin Judith Kohlenberger. Eine Verbesserung der Asylsituation durch den Kompromiss hält sie für fraglich. Wichtige Themen wie illegale Pushbacks würden darin nicht angesprochen, weiters seien nicht alle Länder mit den Plänen einverstanden, so Kohlenberger.

Die Migrationsforscherin kritisiert, dass es sich dabei um kein "vollwertiges Asylverfahren" handle und dies dem Recht auf ein faires rechtsstaatliches Verfahren widerspreche. Besonders problematisch sei die Situation für sexuelle und religiöse Minderheiten. Das zentrale Element, dass Asyl immer eine Einzelfallprüfung sein muss, falle dadurch weg, so Kohlenberger.

Sie warnt, dass es durch den Kompromiss zu einer "Verschlechterung der Situation" kommen könne. Wichtige Themen wie illegale Pushbacks seien nicht einmal angesprochen worden. Auch gebe es keine Einigung mit den Herkunftsländern, wie abgelehnte Asylbewerberinnen und Asylwerber zurückgebracht werden sollen. Weiters werde es zu einem Rückstau in den "haftähnlichen Lagern" an den EU-Außengrenzen kommen. Besonders betroffen seien Familien mit Kindern, die auch in diesen Lagern festgehalten werden dürfen.

„Ich habe nicht daran geglaubt, dass ich hier mal sitzen und das verkünden würde, aber ich tue es“, sagte die schwedische Migrationsministerin Maria Malmer Stenergard über den Kompromiss.
AFP

Nach Angaben der zuständigen Kommissarin Ylva Johansson können abgelehnte Asylwerberinnen oder Asylwerber künftig grundsätzlich auch in Nicht-EU-Länder abgeschoben werden. Einzige Voraussetzung soll sein, dass sie eine "Verbindung" zu diesem Land haben. Wie diese aussehen muss, soll im Ermessen der EU-Mitgliedsstaaten liegen, die für das jeweilige Asylverfahren zuständig sind. Sollte die Regelung beschlossen werden, könnte damit zum Beispiel Italien über das Mittelmeer kommende Menschen nach Tunesien zurückschicken, wenn sich die Regierung in Tunis damit einverstanden erklärt. Um sie zu einer Zustimmung zu bewegen, könnte etwa finanzielle Unterstützung geleistet werden. Für den finalen Gesetzestext müssen die EU-Staaten nun in Verhandlungen mit dem EU-Parlament treten.

Die vereinbarten Pläne werden nach Einschätzung der EU-Kommission aber nicht an Widerstand aus dem Europaparlament scheitern. "Ich denke, auch das Parlament hat den historischen Moment erkannt", sagte Johansson am Freitag am Rande eines Justizministertreffens in Luxemburg. Sie erwarte keine besonders harten Verhandlungen.

Der Grenzzaun zwischen Polen und Belarus in Białowieża.
Agencja Wyborcza.pl via REUTERS

Karner spricht von "gutem Schritt"

"Es ist uns heute nach intensiven, harten, zähen Verhandlungen ein weiterer wichtiger Schritt gelungen für ein strengeres, auch manchmal schärferes und gerechteres Asylsystem", sagte Innenminister Gerhard Karner (ÖVP). Es werde aber "weitere Schritte geben müssen". Österreich, Italien und Griechenland hätten sich für die Möglichkeit der Zusammenarbeit mit sicheren Nicht-EU-Ländern eingesetzt. Bundeskanzler Nehammer (ÖVP) sprach am Freitag auch von "robustem Außengrenzschutz" und Asylverfahren in Drittstaaten, die es benötige.

Der ÖVP-EU-Parlamentarier Othmar Karas begrüßte auf Twitter, dass "der Rat damit endlich an den Verhandlungstisch mit dem EU-Parlament kommt". Der Weg sei aber noch lang, so Karas. Gleichzeitig betonte er, dass Außengrenzschutz EU-Kompetenz werden müsse und es einheitliche Asylverfahren an der Außengrenze brauche.

Kritik an der Einigung kam indes von der FPÖ. "ÖVP-Innenminister Karner ist bei seinem zentralen Versprechen, eine Umverteilung von Asylsuchenden zu verhindern, umgefallen. Damit fällt er den Österreichern in den Rücken!", zeigten sich FPÖ-Chef Herbert Kickl und FPÖ-Sicherheitssprecher Hannes Amesbauer enttäuscht. "Ein Schritt in die richtige Richtung, aber viel zu spät und nicht genug", nannte der FPÖ-Delegationsleiter im EU-Parlament, Harald Vilimsky, die Einigung. "Dass mit dem neuen Grenzverfahren versucht wird, wenigstens einen Teil der Menschen an der Außengrenze zu stoppen und einer schnelleren Entscheidung zu unterziehen, könnte sich positiv auf die hauptbetroffenen Länder innerhalb der Union wie etwa Österreich auswirken", so Vilimsky.

Neben den verschärften Asylverfahren solle es auch mehr Solidarität mit den stark belasteten Mitgliedsstaaten an den EU-Außengrenzen geben. Länder, die keine Flüchtlinge aufnehmen wollen, würden zu Ausgleichszahlungen gezwungen werden. Auf die Frage, ob Österreich davon ausgenommen ist, antwortete Karner: "Wir haben im letzten Jahr über 110.000 Asylanträge gehabt, wir haben beispielsweise Polizisten an der ungarisch-serbischen Grenze." Man habe auch andere solidarische Maßnahmen ergriffen, man erwarte sich auch zunehmend Solidarität von anderen, so Karner. Die deutsche Innenministerin Nancy Faeser (SPD) äußerte sich dazu auf Nachfrage ebenfalls: "Österreich ist dabei, insofern haben sie sich zu dieser Solidarität verpflichtet." Von der Pflicht zur Solidarität könnten beispielsweise Länder wie Italien profitieren. Nach Angaben des Uno-Flüchtlingskommissariats wurden in Italien in diesem Jahr bereits mehr als 50.000 Menschen registriert, die über das Mittelmeer kamen.

Zwangsgeld von 20.000 Euro

Nicht unterstützt wurde die Reform bei dem Treffen von den Ländern Polen, Ungarn, Malta, Slowakei und Bulgarien. Tschechien machte nach der Einigung deutlich, dass es sich nicht an dem Solidaritätsmechanismus beteiligen will. Polen und Ungarn hatten sich bereits in der Vergangenheit ähnlich geäußert.

Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán hat den von den EU-Innenministern erzielten Kompromiss zu neuen Asylregeln als "inakzeptabel" bezeichnet. Brüssel missbrauche damit seine Macht, erklärte Orbán am Freitag auf Facebook. "Sie wollen die Migranten mit Gewalt nach Ungarn verlegen. Das ist inakzeptabel, sie wollen Ungarn gewaltsam in ein Migrantenland verwandeln", kritisierte er. Länder, sie sich weigern, Flüchtlinge aufzunehmen, sollen ein Zwangsgeld in Höhe von 20.000 Euro für jede Person in einen von Brüssel verwalteten Fonds einzahlen.

Kompromiss vor den Europawahlen

Nach der Einigung können die Verhandlungen mit dem EU-Parlament beginnen. Es könnten deshalb auch noch Änderungen kommen. Ein Kompromiss für den gesamten Asyl- und Migrationspakt, der mehrere Regelungen vorsieht, soll noch vor den Europawahlen 2024 erzielt werden.

Justizministerin Alma Zadić (Grüne) äußerte sich zurückhaltend zu der gestrigen Einigung. "Es ist noch immer nicht das letzte Wort gesprochen", so Zadić am Rande eines Treffens der EU-Justizminister in Luxemburg. "Das Europäische Parlament wird auch noch einiges zu sagen haben." Zadić sprach sich für Ausnahmen für Kinder und Familien bei den geplanten Asylvorprüfungen an der EU-Außengrenze aus. Es seien noch viele Fragen offen, so die Justizministerin. Außerdem betonte Zadić, es brauche auf europäischer Ebene eine verpflichtende Verteilung der Asylsuchenden.

So wie die Vorschläge des Rates jetzt auf dem Tisch lägen, widersprächen sie in vielen Teilen einem fairen und menschenrechtswürdigen Asylverfahren, sagte die SPÖ-EU-Abgeordnete Theresa Bielowski. "Insbesondere die Vorselektierung mit Sonderverfahren an den Außengrenzen sind abzulehnen, da das Recht auf faire rechtsstaatliche Verfahren für alle gelten muss", so Bielowski. Positiv zu bewerten sei, dass alle EU-Staaten bei einer gesamteuropäischen Verteilung in die Pflicht genommen würden.

Die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Europaparlament, Terry Reintke, monierte, die Einigung beinhalte unter anderem nicht ausreichend rechtsstaatliche Verfahren sowie Inhaftierungen an den EU-Außengrenzen. "Die Position des Rats widerspricht europäischen Werten wie den Grundrechten und der Achtung der Rechtsstaatlichkeit." Die Fraktion lehne den Beschluss des Rats ab, sagte die deutsche Politikerin. Der Abgeordnete Erik Marquardt kritisierte auf Twitter, die Behauptungen der deutschen Innenministerin Faeser, wonach Flüchtlinge aus Ländern wie Syrien oder Afghanistan nicht betroffen wären, seien falsch. (APA, red, 9.6.2023)