Unser Bild zeigt die Generalprobe
APA/TOBIAS STEINMAURER

Wien - Was Rockfans in den pannonischen Weiten des Nova Rock können, das können Klassikfans schon lange: Ungeachtet aller Gewitterstürme im Vorfeld, versammelten sich Donnerstagabend laut Veranstaltern 55.000 Besucher vor Schloss Schönbrunn, um den Wiener Philharmonikern durch einen französischen Abend zu folgen. Und die pseudoandalusischen Klänge von "Carmen" und Co sorgten für trockene Witterung. Johann Strauß' "Wiener Blut" blieb am Ende die einzige Flüssigkeit des Abends.

Der ORF, für die globale Walzerverbreitung philharmonischer Aktivitäten mitzuständig, hatte die Generalprobe aufgenommen und folglich in Reserve, um sie zu senden, falls Sturm und Regen das Sommernachtskonzert in Schönbrunn verhindert hätten. Das Wettermatch ging diesmal jedoch zugunsten der Wiener Philharmoniker aus. Gut so. Eine Absage wäre auch zu schade gewesen.

Erstmals war ja Yannick Nézet-Séguin zugegen. Der viel beschäftigte, emphatisch das Orchester anfeuernde Vertreter der nunmehr mittleren Generation ist nicht nur Chef des kanadischen Orchestre Métropolitain. Er leitet auch das traditionsreiche Philadelphia Orchestra. Insbesondere ist er aber Musikdirektor der Metropolitan Opera in New York und hat wohl seine Erfahrungen mit Bizets Carmen gemacht.

Aller guten Dinge sind immer wieder drei: Die lettische Mezzosopranistin Elina Garanca sang aus Bizets "Carmen", Gounods "Sapho" und aus Saint-Saëns’ "Samson et Dalila".
EPA/CHRISTIAN BRUNA

Die Oper wird natürlich in Schönbrunn nicht integral gegeben. Aber die Carmen-Suite Nr. 1 (Fassung E. Guiraud) war eine gute Einstimmung für Mezzosopranistin Elīna Garanča, welche die berühmte Habanera aus dem ersten Akt elegant und in gewohnter Klangfülle präsenterte. Das hatte zwar spanisches Kolorit, der Abend war allerdings eher französisch gefärbt. Nachdem Garanča ihre Robe gewechselt hatte, kam sie als Gounods Sapho aus der gleichnamigen Oper mit der Arie O ma lyre immortelle fulminant zurück.

Schließlich erklomm sie als Dalila, die Samson sein Krafthaargeheimnis entlocken will, mit der Blockbuster-Arie Mon cœur s’ouvre à ta voix den Gipfel einer gefühlvollen und doch vitalen Lyrik. Sie kann es auch unter freiem Himmel, und auch die sie geschmeidig begleitenden Philharmoniker waren Virtuosen, die Maurice Ravels Suite Daphnis et Chloé sogar farbprächtig und in Maßen verträumt umsetzten. In die Abteilung "Diskrete und langsame Aufarbeitung alter Versäumnisse bezüglich der Präsenz von Frauen im Orchester" darf Lili Boulangers D’un matin de printemps (Fassung für Orchester 1918) eingeordnet werden. Das hochkarätige und zauberhafte Stück der zu früh verstorbenen Schwester der legendären Pädagogin Nadia Boulanger wurde von Dirigent und Vorstand der Philharmoniker Daniel Froschauer dann überraschend der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte gewidmet, deren Unterzeichnung sich heuer zum 75. Mal jährt.

Gold vor Millionenpublikum

Eine weitere Neuheit: Zu dem sich durch innerorchestrale Weiterreichung der Melodie effektvoll steigernden Boléro von Maurice Ravel sah man Tänzerinnen und Tänzer der Jugendkompanie des Staatsballetts, die als Schattenmenschen die Schönbrunn-Fassade bevölkerten. Geht in Ordnung. Das galt auch für den hier schon traditionellen Strauß-Walzer Wiener Blut, aus dem heraus allerdings noch nicht geklärt werden konnte, ob Yannick Nézet-Séguin ein guter Neujahrskonzertdirigent wäre. Optisch jedenfalls würde er mit seinem dynamisch-opulenten Bewegungsstil sicher "bella figura" machen.

Den Philharmonikern und ihrem Maestro zur Seite stand als weitere Debütantin die lettische Mezzosopranistin Elina Garanča, die mit drei Arien aus Bizets "Carmen", Gounods "Sapho" und Saint-Saëns "Samson et Dalila" ihre Versatilität im französischen Fach unter Beweis stellte. "Da kommt Gold aus ihrer Kehle", hatte sich Philharmoniker-Vorstand Daniel Froschauer beglückt von der Bühnenkollegin gezeigt. Das Gold floss dabei vor einem Millionenpublikum. Schließlich reicht der Zuschauerkreis beim Sommernachtskonzert weit über die Livegäste hinaus. So ist das vom ORF zeitversetzt übertragene Format mittlerweile nach dem Neujahrskonzert das weltweit meistausgestrahlte Klassikereignis, das in über 80 Ländern zu sehen ist. (Ljubiša Tošic, 9.6.2023)