Cindy Sherman / Lentos
Fotografin Cindy Sherman inszeniert sich selbst mit ihren fiktiven Zwillingsschwestern.
Cindy Sherman

Ob der weiße Blütenkranz oder die kindlichen Zöpfe zum Dresscode des Festes passen, scheint den zwei jungen Frauen, die dort als ungebetene Gäste auftauchen, völlig egal zu sein. Viel eher fällt das Doppel durch sein Verhalten auf, das so gar nicht zum Benimmkodex junger Frauen im Jahr 1966 passen möchte.

Sie stellen ihr mitgebrachtes Bier auf den Tisch, tanzen angetrunken auf den Samtbänken und stören das gesittete Publikum. Tausendschönchen von Věra Chytilová gilt als Kultfilm der Tschechoslowakischen Neuen Welle und machte feministische Umbrüche sichtbar. Aktuell läuft er (in einer Kurzfassung) in der neuen Ausstellung Sisters & Brothers im Linzer Lentos.

Ob die beiden rebellischen Protagonistinnen, die sich wie groß gewordene Pippi Langstrümpfe an keinerlei Konventionen halten, wirklich leibliche Schwestern oder viel eher verschwisterte Freundinnen sind, ist hier nebensächlich.

Johann Baptist Reiter
In Johann Baptist Reiters Werk wird der kleine "Traubendieb" (ca. 1860) von seiner Schwester unterstützt.
Nordico Stadtmuseum Linz

Bruderliebe in der Bibel

Mit dieser Offenheit gilt es die umfassende Schau zu erkunden, die 500 Jahre Geschwister in der Kunstgeschichte durchstreift und dabei Brüder und Schwestern im Geiste mitmeint. Anfänglich stehen aber offensichtlich verwandtschaftliche Verhältnisse biblischer oder mythologischer Darstellungen im Zentrum: Kain und Abel, Romulus und Remus oder die Schicksalsgöttinnen Klotho, Lachesis und Atropos.

Ursprünglich aus der Kunsthalle Tübingen stammend, präsentiert nun das Lentos – das heuer 20. Geburtstag feiert – das Ausstellungsprojekt mit rund 120 Gemälden, Zeichnungen, Fotografien, Skulpturen, Objekten und Videos vom 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart.

Die Linzer Ausgabe wurde neben Leihgaben mit zahlreichen Werken aus den Sammlungen von Lentos und Nordico erweitert. Beispielsweise eine ganze Reihe an Künstler-Bilderbüchern mit Grimms Märchen, die bekannte Geschichten (1904 bis 1930) wie Aschenputtel, Schneeweißchen und Rosenrot oder Frau Holle allerliebst illustrieren.

Forever Schwestern

Während das höfische Porträt von Geschwistern noch dazu diente, Kinder und junge Adoleszente repräsentativ abzubilden, erlangte die Darstellung von Geschwisterliebe – vor allem zwischen Schwestern – große Beliebtheit in der Romantik und im Biedermeier. Bürgerliche Porträts zeigen sich aneinander anschmiegende Figuren.

Oder auch emotionale Abschiedsszenen wie bei dem kleinformatigen Gemälde Die Schwester Juliette von Gustave Courbet, in dem der französische Künstler und Mitbegründer des Realismus seine Lieblingsschwester beim weinerlichen Adieu inszenierte.

August Macke / Lentos
Das Gemälde "Zwei Schwestern" von August Macke stammt aus 1911.
Lehmbruck Museum, Duisburg

Bevor man sich in die zeitgenössischen Kapitel begibt und das Thema der Geschwister entweder dokumentarisch, abstrakt oder utopisch weiterfädelt, hängt die Ausstellung mittig bei Werken der Neuen Sachlichkeit sowie des Expressionismus etwas durch. Trotz großer Namen und ausreichender Information zu den einzelnen Hintergründen gerät die Schau zu einer Aufzählung von Geschwisterdarstellungen: Auch Egon Schiele, Erich Heckel oder Paula Modersohn-Becker malten diese. Inhaltlich fehlt der verbindende Erzählbogen.

Etwas abrupt steht man dann vor einer extra für Geschwister geschaffenen One Minute Sculpture von Erwin Wurm oder einer Fotoarbeit von Cindy Sherman, die sich darauf mehrmals mit ihrem fiktiven Zwillings-Ich abbildet.

Zwillinge und Einzelkinder

Doch bevor das Geschwister-Narrativ formal etwas legerer wird, erzählt die tolle schwarz-weiße Fotoserie von Nicholas Nixon die Geschichte seiner Frau und ihren drei Schwestern: Von 1975 bis 2021 schoss er jedes Jahr ein Bild der Brown Sisters. Die Zeit vergeht, das Alter schreitet voran, die vier bleiben dieselben.

Davor scheinen zwei schwere Skulpturen aus Aluminium und Polyester mitten im Raum zu tanzen. Die in Wien lebende Künstlerin Julie Hayward abstrahiert die Beziehung zweier Geschwister – deren Intensität bleibt Auslegungssache.

Nicholas Nixon / Lentos
Von 1975 bis 2021: Aus der Serie "The Brown Sisters" von Nicholas Nixon.
Nicholas Nixon

Abschließend beobachtet Fiona Tans Videoarbeit auf zwei Bildschirmen eineiige Zwillingspaare in deren privater Umgebung. Die frappierende Ähnlichkeit wird durch kennzeichnende Unterschiede durchbrochen.

Dass sich bisher keine Ausstellung dem Aspekt von Geschwistern in der bildenden Kunst gewidmet hat, ist bei einem gesellschaftlich so präsenten Thema verblüffend. Wenngleich die Lentos-Schau einen vielfältigen Streifzug anbietet, vermisst man tiefergehende Dialoge zwischen den einzelnen Werken. Sind das alles Einzelkinder? (Katharina Rustler, 10.6.2023)