Rammstein-Fans bei Rock in Vienna auf der Wiener Donauinsel im Jahr 2016. Ob das Vertrauen von Frauen in Rock auch so groß ist? 
Rammstein-Fans bei Rock in Vienna auf der Wiener Donauinsel im Jahr 2016. Ob das Vertrauen von Frauen in Rock auch so groß ist?
Christian Fischer

Seit über einer Woche mehren sich die Berichte von jungen Frauen über Partys vor oder nach Rammstein-Konzerten. Dass sie für die Partys gezielt ausgewählt worden seien. Nicht nur zum Feiern, sondern damit sich Till Lindemann eine für Sex aussuchen könne, lauten die Vorwürfe unter anderem. 

Aber beginnen wir nicht bei der Band Rammstein, sondern anderswo: Wie ist diese Branche eigentlich gestrickt? Wie geht sie allgemein mit Frauen um? Eine, die sich damit beschäftigt, ist die Produktionsleiterin Karin Tonsern, ausgebildete Meisterin der Veranstaltungstechnik und seit über zehn Jahren national und international als Produktionsleiterin sowie Tour- und Stagemanagerin bei Livemusikevents tätig. 2019 gründete sie das Netzwerk Sisters of Music. "Irgendwann dachte ich: Das kann doch nicht sein, dass ich, egal wo ich hinkomme, immer die einzige Frau bin." Am 7. Juli veranstaltet sie in der Arena in Wien das Sisters-Festival mit fünf nationalen und internationalen all-female und female-fronted Acts, auch die lokale Crew ist weiblich.

Tonsern berät auch zum Thema Awareness und Diversity bei Veranstaltungen und dazu, wie sich sexuelle Belästigung und Gewalt bei Veranstaltungen verhindern lassen. Eigentlich steht Sicherheit in dieser Branche weit oben auf der Prioritätenliste. "Große Konzerte oder Großveranstaltungen haben alle Sicherheitskonzepte, wir überlegen uns, was passiert, wenn wir evakuieren müssen. Was machen wir, wenn's brennt? Aber über etwas, das eigentlich sehr oft vorfällt, nämlich Belästigung, darüber machen wir uns keine Gedanken", so Tonsern. Wieso kann sich eine Branche, die im schlimmsten Fall in kürzester Zeit 10.000 Leute vor einem Gewitter in Sicherheit bringen kann, in der es Securitys und medizinisches Personal gibt und auch die Feuerwehr anwesend ist, nicht dazu durchringen, Frauen vor Übergriffen zu schützen?

Wie kann man helfen?

"Wir haben in Österreich, aber auch weltweit ein Problem mit Misogynie", sagt Tonsern. Zahlen für die Veranstaltungsbranche gibt es nicht. "Wir wissen, in Österreich sind drei Viertel aller Frauen von Belästigung betroffen und ein Drittel von sexualisierter Gewalt. Aber wir wissen nicht, wo", so Tonsern. Eine Studie aus England aus dem Jahr 2018 liefert folgende Zahlen: "Über vier von zehn Frauen unter 40 haben unerwünschtes sexuelles Verhalten bei einem UK-Festival erfahren", steht da. "Davon haben sich sieben Prozent an das Veranstaltungspersonal gewandt, zwei Prozent an die Polizei", so Tonsern. Sprich: Die bei beiden Stellen eintreffenden Zahlen haben mit der tatsächlichen Häufigkeit von Vorfällen nichts zu tun. Insofern sieht Tonsern gewisses Potenzial durch den Fall Rammstein: "Das kann sich nun positiv auswirken, weil Medien darauf anspringen und das thematisiert wird. Das kann zu mehr Bewusstsein führen."

Wie kann man selbst helfen? Jemanden vom Securityteam holen oder einen Sanitäter, eine Sanitäterin. "Man muss gar nichts Großartiges machen, man muss nur wachsam sein und nicht von irgendetwas ausgehen. Wenn beispielsweise nachts ein Mann und eine Frau Richtung Campingplatz gehen, sie ist sehr beeinträchtigt, er stützt sie. Eigentlich muss man dann hingehen und sagen: 'Komm, zur Sicherheit deiner Freundin nehmen wir sie kurz mit, untersuchen sie kurz.'"

Was noch fehlt? "Wir schließen generell auf Veranstaltungen sehr viele Menschen aus. Das gilt auch für Line-ups: Wenn ich auf Festivals gehe und ich bin da überhaupt nicht repräsentiert, weil nur eine Frau auf der Bühne steht von 100 Bands oder keine schwarze Person oder LGBT+-Leute, dann fühle ich mich auch als Besucherin nicht widergespiegelt. Ich glaube schon, dass das ein angenehmeres Klima macht. Das betrifft auch Personen mit Behinderungen." Es sind nicht nur die großen Schritte, sondern auch die kleinen, für die Musikerinnen extrem dankbar sind: fragen, ob und wo man sich berührt, beim Mikrofonieren, beispielsweise. Dafür in einen anderen Raum gehen.

Halbprivate Stimmungen

Maria Z. (Name von der Redaktion geändert), eine Frau, die 1998 bis 2002 in Österreich bei Musiklabels gearbeitet hat, bestätigt das. Sie selbst hat möglichst viele Jobs mit Frauen besetzt, bei den Männern in der Branche – egal ob von Veranstalterseite oder bei Journalisten – waren "tiefe" Witze gang und gäbe. Egal welche Expertise man als Frau hatte, man wurde permanent sexualisiert. Hinzu kommt: "In all den Jahren habe ich in der Branche keine Musikchefinnen, keine A&R-Frauen (Artists and Repertoire, zuständig für die Suche nach neuen Trends und Bands, die entscheiden, wer unter Vertrag genommen wird, Anm.) kennengelernt." Wenn Bands zu betreuen waren und eine Kollegin mit ihnen unterwegs, gab es ein "Buddysystem" – nie hat man das Handy abgedreht. Nicht dass oft ein Anruf von einer Kollegin kam, aber man wusste: Er kann kommen. Manchmal musste man Kolleginnen aus der Schusslinie nehmen und nach Hause schicken, wenn Künstler zu zudringlich wurden, man hatte das immer im Auge, "ich übernehme hier", hieß es dann. Gespräche über Arbeitsstrukturen gab es nicht: "Es herrschte eine halbprivate Stimmung, das war wie eine Art bezahltes Hobby für Journalisten und uns und für die Künstler auch, ganz im Unterschied zu allen anderen Jobs, die ich später hatte." Auch Maria Z. bestätigt: Sie musste selbst erst ein Bewusstsein dafür entwickeln, was normal ist und was nicht.

Es sind nicht nur Backstagebereiche, die oft frauenfrei sind, es waren lange Zeit auch Musikredaktionen. Musikredaktionen, die zur Hälfte weiblich besetzt wären und mit People of Color, mit queeren Menschen und mit Menschen mit Migrationshintergrund, hätten den Argumenten "Spiel mit faschistischen Elementen" und "ironischem Frauenhass" bei Rammstein wohl weniger abgewonnen.

"Diese Überhöhung geht nicht nur in frauenfreien Räumen, sondern auch nur in rein weißen Räumen", betont Katharina Weingartner. "Das ist ja nicht nur eine Männerkultur, sondern auch eine weiße Männerkultur." Die Radio- und Filmemacherin hat Ende der 1980er-Jahre begonnen, über Hip-Hop zu schreiben, "als Jungspund mit 24" bei der "Spex" in Deutschland. "Da waren schon einige starke Frauen vor mir in der Redaktion, Clara Drechsler, Jutta Koether, die Grether-Schwestern, da war die Stimmung in der Redaktion nicht mehr so sexistisch. Ich habe mich für europäische Verhältnisse ziemlich gut ausgekannt bei Hip-Hop, habe Jazz-Schlagzeug studiert, war musikalisch wahnsinnig gebildet, und das wurde bei der 'Spex'-Redaktion ernstgenommen von den Männern."

Sexistisches Umfeld

In Österreich war alles anders: "Ich bin zur 'Musicbox' (frühere Ö3-Sendung, Anm.) als Hip-Hop-Expertin eingeladen worden, ab da war ich 'Groupie', weil als Frau konnte ich nicht Expertin sein. Das Umfeld war extrem sexistisch. 'Was ist, wenn dein Reißverschluss platzt?' 'Du, machst du das eigentlich wegen der N-Schwänze? Sind die wirklich größer?' Ich war mit De La Soul oder A Tribe Called Quest im Funkhaus, und ein Kollege hat zu mir gesagt: 'Ja, weißt du, du kannst so gut mit denen, weil die stehen halt auf dich als Frau.' Dabei war ich im gesamten deutschen Sprachraum eine der wichtigsten Expertinnen, war der totale Nerd. Ich kannte jede Veröffentlichung, wusste, wer welche Nummern geschrieben und produziert hat, habe alle wichtigen Bands interviewt. Ich habe die erste wichtige Hip-Hop-Sendung im deutschsprachigen Raum gegründet, 'Tribe Vibes'. 'Einmal die Woche schwarze Musik ist genug', hat ein Kollege gesagt und, solange ich mich nicht mit den Rolling Stones auskenne, könne ich doch keine einstündige Sendung machen." Die Kollegen haben dann in der Sendung aus der "Spex" vorgelesen, Weingartner war die Einzige, die dort geschrieben hat und leitete später das New Yorker Büro der Zeitschrift. Keine Pointe.

Rammstein scheinen sich für die Diskussion gut zu eignen, weil sich in den Texten der Band Machtmissbrauch und Misogynie finden. Tatsache ist aber auch, dass Fans von kuscheligen Indierockern mit vielen Liebesliedern und feministischen Aussagen Ähnliches widerfahren kann beziehungsweise Übergriffe und sexualisierte Gewalt Frauen – wir erinnern uns an die oben genannte Statistik – in hohen Zahlen permanent widerfährt, ganz abseits von Konzerten und Backstagebereichen, zu Hause, in der Arbeit, in der Familie, überall.

Die aktuellen Diskussionen rund um die Vorwürfe gegen Till Lindemann zeigen vor allem eines: einen gesamtgesellschaftlichen Nachholbedarf beim Thema Konsens. Denn eines steht fest: Es ist allen Menschen unbenommen, Machtgefälle oder Berühmtheit sexuell erregend zu finden oder zu versuchen, mit berühmten Menschen, auch jenen, die nicht für Freundlichkeit bekannt sind, Sex zu haben. Wer mit Skandalrockern ins Bett will, soll nur. Es ist bizarr, dass man das 2023 noch deutlich aufschreiben muss: Auch Frauen, die die Vorstellung von Sex mit berühmten Männern erregt, haben ein Recht darauf, nicht verletzt zu werden und ihre Sexualität selbstbestimmt zu leben.

Männliche Fans? Das sind Experten

Aber auch hier gilt: Fantum von Frauen und von Männern wird oft unterschiedlich behandelt. Erneut werden Frauen sexualisiert (Die wollen doch nur mit den Stars schlafen!) und Männer, die ebenfalls alle Texte auswendig können und die richtigen Shirts tragen, als Experten verklärt. Seit den Beatles-Fans steht der Vorwurf im Raum, weibliche Fans wollten nur Sex – dabei haben sich viele mit den Beatles identifiziert, mit einer Freiheit und einem revolutionären Potenzial, das für junge Mädchen nicht vorgesehen war. Und wenn es nur das ist, eine Gitarre in die Hand zu nehmen.

Fantum ist nicht nur Praxis, sondern auch ein Forschungsfeld, das sich mit sozialen Strukturen auseinandersetzt. Svenja Reiner ist Kulturwissenschafterin, Autorin und Literaturvermittlerin, promoviert in der Musikwissenschaft über Fans in der Neuen Musik. "Gerade wenn man diese emotionalen Verbindungen, diese Intensitäten anspricht und das auch historisch anguckt, dann sind es natürlich immer emotionale Praktiken von weiblichen Pop-Fans, die abgewertet wurden." Auch von der Wissenschaft wurden weibliche Fans immer abgewertet, "das ist ein sehr guter Nährboden, wenn dann Äußerungen oder Berichte von Geschädigten kommen, die sagen, mir ist hier etwas Schlimmes passiert, zu sagen, selbst schuld, wir haben von dir eh nie viel erwartet".

Was fehlt: eine kritische Auseinandersetzung mit Machstrukturen, die im System eingeschrieben sind. Diese findet zwar statt, aber eher außerhalb der Branche. Beschäftigt sich der Rockfestivalveranstalter mit Geschlechtergerechtigkeit? Unwahrscheinlich. Reiner spricht vom "Trilemma der Inklusion: Man kann nie Empowerment, Dekonstruktion und Normalität zusammenbringen".

In einer Welt, die so gestrickt ist, können sich Opfer von Gewalt und von Übergriffen nicht richtig verhalten. Das hat nichts mit "Groupie-Kultur" zu tun, die ja auf Freiwilligkeit beruht. Die überraschend deutliche Message ist: Wollen Frauen Sex? Dann müssen sie mit Übergriffen rechnen, so schallt es bei der aktuellen Diskussion aus allen Ecken des Internets. Wollen sie keinen Sex? Dann müssen sie auch mit Übergriffen rechnen! Gleichzeitig gibt es angeblich keine Übergriffe. Was denn nun?

Nichts dran?

Und das ist wohl das wahre Thema dieser Diskussion: Was dürfen Frauen? Welche Rollen gestehen wir ihnen zu, in der Musikbranche sowie als Gesellschaft? Line-ups von großen Festivals und auch wer statistisch auf die Cover von Rockzeitschriften kommt oder Musikpreise bekommt, lassen wenig Deutungsspielraum zu, wie wichtig wir Frauen in dieser Branche nehmen. Noch immer entscheiden jene, die am wenigsten betroffen sind, ob Übergriffe und fehlende Diversität in der Branche Relevanz haben: "Da ist doch nichts dran", heißt es dann oder "Die machen sich wichtig" – was wiederum die Aussagen jener minimiert, die sich gegen tatsächlich große Widerstände trauen, Dinge öffentlich zu machen.

Es geht also um weit mehr als um das Verhalten einer Band. Am Ende steht vielleicht doch die Erkenntnis: Wenn wir Veränderung wollen, müssen wir metaphorisch alles anzünden – wenn auch nicht so, wie sich Rammstein das in ihrer Bühnenshow vorstellen. Und vermutlich liegt darin die wahre gesellschaftliche Provokation – nicht in einer Riesenpeniskanone auf der Bühne. Wer hätte das gedacht. (Julia Pühringer, 10.6.2023)