Nach dem Bruch des Kachowka-Damms in der Region Cherson in der Südukraine wurden am Freitag die Opferzahlen mit vier Toten und 13 Vermissten angegeben. Das erklärte Innenminister Ihor Klymenko. 2.412 Personen seien in Sicherheit gebracht worden. Über Opferzahlen auf der von russischen Invasionstruppen besetzten linken Flussseite können freilich keine Angaben gemacht werden. Die Ukraine kritisierte am Freitag erneut die russischen Angriffe auf Hilfskräfte, die bei der Rettung der durch das Hochwasser eingeschlossenen Zivilisten im Einsatz sind. "Wir verurteilen die Bombardierung der Evakuierungszonen aufs Schärfste", sagte der UN-Botschafter der Ukraine, Serhij Kyslyzja. Er forderte die russischen Behörden auf, die Angriffe einzustellen und nach der Teilzerstörung des Kachowka-Staudamms einen "vollständigen, sicheren und ungehinderten" Zugang für Hilfslieferungen zu ermöglichen.

Überschwemmungen in Cherson.
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Humanitären Einsatzkräften insbesondere der Vereinten Nationen und des Internationalen Komitees vom Roten Kreuzes (IKRK) müsse es ermöglicht werden, den Menschen in den von den Überschwemmungen betroffenen Gebieten am von Russland kontrollierten linken Ufer des Dnipro zu helfen, forderte Kyslyzja in New York. Bei russischen Luftangriffen auf das Zentrum der Stadt Cherson und ihr Umland wurde ein Mensch getötet und 18 weitere verletzt, darunter auch Angehörige der Rettungsdienste.

Der Damm des Kachowka-Stausees nach der Zerstörung in einer Satellitenaufnahme vom 7. Juni.
REUTERS/Maxar

Beweise für russische Verantwortung

Unterdessen konkretisiert sich die Vermutung, dass Russland für die Katastrophe verantwortlich ist. Die Ukraine hat nach eigenen Angaben Beweise für die Schuld Moskaus. Der ukrainische Inlandsgeheimdienst SBU teilte am Freitag mit, er habe ein Telefonat russischer Truppen mitgeschnitten. Dieses belege, dass eine russische Sabotagetruppe das Wasserkraftwerk und den Staudamm gesprengt habe. Auf seinem Telegram-Kanal veröffentlichte der SBU den Mitschnitt eines eineinhalb Minuten dauernden Telefongesprächs. Darin scheinen zwei Männer auf Russisch über die Folgen des geborstenen Damms zu sprechen. "Sie (die Ukrainer) haben ihn nicht getroffen. Das war unsere Sabotagegruppe", sagt einer der Männer, der dem SBU zufolge ein russischer Soldat ist. Man habe Schrecken verbreiten wollen. "Es lief nicht nach Plan, und sie haben mehr getan, als sie geplant hatten." Der Mann fügte hinzu, dass tausende Tiere in einem Safaripark flussabwärts verendet seien. Der andere Gesprächsteilnehmer zeigte sich überrascht über die Darstellung, dass russische Truppen das Wasserkraftwerk und den Damm zerstört haben sollen.

Das Kraftwerk steht seit Beginn der russischen Invasion im Februar 2022 unter der Kontrolle der russischen Besatzer. Die Authentizität des Telefonmitschnitts konnte nicht unabhängig überprüft werden. Der Geheimdienst betonte, das abgehörte Telefonat bestätige, dass russische Saboteure für die Zerstörung verantwortlich seien. "Die Invasoren wollten die Ukraine erpressen, indem sie den Damm sprengten." Damit hätten sie eine Katastrophe ausgelöst. Es habe sich endgültig gezeigt, dass Russland "eine Bedrohung für die gesamte zivilisierte Welt" sei. Es gelte, nicht nur die russische Führung unter Präsident Wladimir Putin zur Rechenschaft zu ziehen, sondern auch die "gewöhnlichen Straftäter".

Sinkende Pegel

Im Becken des ehemaligen Stausees sanken die Pegel unterdessen weiter. Seit Dienstagfrüh sei der Wasserstand um fast fünf Meter auf 11,7 Meter gesunken, teilte der staatliche Wasserkraftwerksbetreiber Ukrhydroenergo in Kiew mit. Das Wasser sinke um etwa einen Meter innerhalb von 24 Stunden. Die Reste der zerstörten Staumauer zerfielen außerdem weiter, meldete das Staatsunternehmen. In den Staustufen flussaufwärts werde nun vermehrt das Wasser gestaut, um Reserven für den Sommer zu haben.

Im überschwemmten Ufergebiet rechts des Flusses sank das Hochwasser um 20 Zentimeter im Vergleich zum Vortag. Das gab der ukrainische Militärgouverneur des Gebiets, Olexander Prokudin, bekannt. Der Pegel zeigte am Freitag 5,38 Meter an. 32 Ortschaften und mehr als 3.600 Häuser stünden unter Wasser. Mehr als 2.000 Menschen und hunderte Tiere seien in Sicherheit gebracht worden. Prokudin rief die Menschen auf, ihre überschwemmten Häuser zu verlassen.

Der Sekretär des Rats für nationale Sicherheit und Verteidigung, Olexij Danilow, verglich die Zerstörung des Staudamms angesichts der katastrophalen Folgen mit dem "Einsatz einer taktischen Atomwaffe". Er machte im ukrainischen Radio Kreml-Chef Wladimir Putin persönlich für das Kriegsverbrechen verantwortlich. "Solche Entscheidungen werden nur im Kreml getroffen und nur von Putin", sagte Danilow. Auch die Folgen für Russland seien katastrophal, weil das Land für die Schäden werde bezahlen müssen.

Noch genug Wasser für AKW-Kühlung

Eine befürchtete Folge der Staudammsprengung ist jedoch noch nicht eingetreten: Das ukrainische Atomkraftwerk Saporischschja erhält nach Angaben der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) weiterhin noch Wasser für die Kühlung der Brennelemente aus dem Stausee. Zuvor hatte der ukrainische Betreiber des AKWs gewarnt, das Wasser des Stausees reiche nicht mehr aus, um die Reaktoren im rund 150 Kilometer entfernten AKW zu kühlen.

Karte Südukraine mit Kachowka-Staudamm und AKW, Detailplan Atomkraftwerk
Das AKW Saporischschja verfügt über ein großes Kühlwasserbecken.
APA

Das gebe "uns etwas mehr Zeit, bevor wir möglicherweise auf andere Versorgungsquellen umsteigen müssen", erklärte IAEA-Chef Rafael Grossi am Donnerstag. Eine Prüfung habe ergeben, dass der Pumpvorgang "auch dann fortgesetzt werden kann, wenn der Pegel unter die aktuelle Schwelle von 12,7 Metern fällt", die zuvor als kritisch eingestuft worden war, erklärte die UN-Behörde und legte als neuen kritischen Wert einen Wasserpegel von "elf Metern oder sogar darunter" fest. Wenn der Damm nicht mehr intakt sei, könne das Kraftwerk auf "ein großes Auffangbecken in der Nähe sowie auf kleinere Reserven und Brunnen vor Ort zurückgreifen, die mehrere Monate lang Kühlwasser liefern können", sagte Grossi, der kommende Woche das größte AKW Europas im Süden der Ukraine besuchen wird. 

Die Reaktoren des von Russland besetzten Atomkraftwerks Saporischschja sind bereits abgeschaltet. Der Brennstoff in den Reaktorkernen und in den Lagerbecken muss allerdings ständig gekühlt werden, um eine Kernschmelze und die Freisetzung von Radioaktivität in die Umwelt zu verhindern. (red, APA, Reuters, 9.6.2023)