In Montenegro finden am 11. Juni vorgezogene Parlamentswahlen statt. Europa jetzt!, die Partei des erst seit Mai amtierenden montenegrinischen Präsidenten Jakov Milatović, hat gute Chancen, stärkste Kraft zu werden.  Im STANDARD-Interview spricht Milatović darüber, dass eine Regierung ohne Milo Djukanovićs Partei DPS gebildet werden soll. Die bisherige Koalition hat mit Unterstützung der proserbischen und der Pro-Kreml-Parteien in Montenegro regiert.

Die größte Herausforderung der Zukunft sieht Milatović in der Neuaufstellung der montenegrinischen Justiz, die unter der ehemaligen Regierung mutmaßlich mit der organisierten Kriminalität in Verbindung stand. In Sachen Ukrainekrieg möchte Milatović auf einer Linie mit der EU bleiben, man arbeite auch in vielen anderen Bereichen offen mit der EU zusammen. Gleichzeitig sei man bemüht, die Beziehungen mit direkten Nachbarn wie Serbien zu entspannen und zu normalisieren.

STANDARD: Ihre Partei Europa jetzt! wird höchstwahrscheinlich die Wahlen am Sonntag gewinnen. Welche Art von Koalition würden Sie bevorzugen?

Milatović: Im Jahr 2020 kam es zum großen Regimewechsel. Was nach diesem Regierungswechsel übrig blieb, war der Präsident, der das Symbol des früheren Regimes war. In dieser Hinsicht waren die Präsidentschaftswahlen historisch. Ich habe Herrn Đukanović besiegt, der die letzten 33 Jahre in Montenegro an der Macht war. Die Parlamentswahlen sind nur eine Art Fortsetzung dessen, was während der Präsidentschaftswahlen passiert ist. Ich denke, es wäre gut für die DPS von Milo Đukanović (Ex-Präsident, Anm.), im nächsten Wahlzyklus in der Opposition zu bleiben und die Reformen fortzusetzen.

Jakov Milatović, Montenegro
Der Wirtschaftswissenschafter Jakov Milatović ist seit 20. Mai 2023 Präsident Montenegros. Von Dezember 2020 bis April 2022 war er bereits parteiloser Minister für wirtschaftliche Entwicklung. 2022 gründete er mit Milojko Spajić die montenegrinische politische Bewegung Evropa sad! (Europa jetzt!) und ist seither deren Vizevorsitzender.
AP/Risto Bozovic

STANDARD: Würden Sie also lieber eine Koalition mit jenen Parteien unterstützen, die proserbisch und Kreml-freundlich sind, als mit der DPS?

Milatović: Für mich als Präsident ist es ganz klar und sehr wichtig, dass das Land an seiner außenpolitischen Agenda festhält, die bereits zu 100 Prozent mit der EU übereinstimmt.

STANDARD: Der Kreml versucht Fake News zu verbreiten, um einen Hybridkrieg auf dem Balkan zu führen. Was tun Sie als Staatsoberhaupt eines Nato-Landes, um diese Unterwanderung zu verhindern?

Milatović: Ich denke, dass die Sicherheitsrisiken in Montenegro genau die gleichen sind wie in Österreich. Als junge Demokratie ist es jedoch etwas schwieriger als in einigen westeuropäischen Ländern, diese Herausforderungen zu bewältigen. In diesem Zusammenhang ist die Mitgliedschaft Montenegros in der Nato sehr wichtig, da wir auch erhebliche Unterstützung erhalten. Letztes Jahr wurde die Website der montenegrinischen Regierung massiv angegriffen, und die technische Kapazität Montenegros war relativ schwach. Um uns von dem Angriff zu erholen, hatten wir drei strategische Unterstützer: die USA, Frankreich und Slowenien. Mit all der Hilfe, die wir von der Europäischen Kommission und den gemeinsamen Bemühungen Sloweniens und Frankreichs erhalten haben, arbeiten wir auch an der Einrichtung des regionalen Cyberzentrums mit Sitz in Montenegro.

STANDARD: Wird Montenegro an den restriktiven Maßnahmen gegen Russland festhalten? Sie haben den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj getroffen. Gibt es konkrete Unterstützung, die Montenegro der Ukraine als Nato-Mitglied leisten kann?

Milatović: Wir haben gegen Russland genau die gleichen Sanktionen verhängt wie die EU. Darüber hinaus haben wir unseren Arbeitsmarkt für die ukrainische Bevölkerung geöffnet, die aus dem Kriegsgebiet geflohen ist. Derzeit stammen etwa fünf bis sechs Prozent unserer Bevölkerung aus der Ukraine. Pro Kopf sind wir eines der Länder mit der höchsten Aufnahmekapazität für die ukrainische Bevölkerung in Europa. Wir stellten ihnen kostenlose Gesundheitsversorgung zur Verfügung und unterstützten die Ukraine und den ukrainischen Kampf gegen Russland finanziell auf bilateralem Wege. Am Rande des EPC-Gipfels in der Republik Moldau habe ich kurz Präsident Selenskyj getroffen. Er war sich aller Dinge, die Montenegro tut, sehr bewusst. Wir werden uns weiterhin so verhalten.

STANDARD: Es gibt in Montenegro nicht nur Ukrainer, sondern auch viele Russen, und es gibt auch russisches Eigentum und Vermögen. Welche Maßnahmen muss Montenegro ergreifen, wenn es um diese Vermögenswerte geht? Gibt es Risiken bei Geldwäsche und Steuerhinterziehung? Und sind der Rechtsstaat und die Institutionen der Justiz stark genug, um dem entgegenzuwirken?

Jakov Milatović (vorne) beim European-Political-Community-Gipfel in Moldau mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, Serbiens PräsidentAleksandar Vučić (hinten), Luxemburgs Premierminister Xavier Bettel (neben Vučić) und dem Schweizer BundespräsidentenAlain Berset.
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Milatović: Viele Menschen flohen aus Russland und fanden ihren Frieden in ganz Europa und im Rest der Welt, darunter auch in Montenegro. Einige von ihnen hatten bereits ihre Grundstücke in Montenegro. Wir haben etwa fünf Prozent Russen und fünf Prozent Ukrainer. Beide Gruppen brachten Humankapital und etwas Finanzkapital mit.

Aus diesem Grund verzeichnen wir einen erheblichen Anstieg der Einlagen in unserem Bankensystem, und das war einer der Gründe dafür, warum sich unser Tourismussektor zu Beginn dieses Jahres trotz der Nebensaison recht gut entwickelte. Wenn es um Geldwäsche und alle Probleme geht, die diese Krise möglicherweise mit sich bringt, erhalten wir viel Unterstützung von der EU. Wir geben unsere Informationen vollständig an unsere EU-Partner weiter. Die Zentralbank steht mit unseren Partnern in Kontakt und hat aktiv eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, um die Filter zur Minimierung aller Risiken zu verbessern.

STANDARD: Was sollte getan werden, um die Rechtsstaatlichkeit in Montenegro zu stärken?

Milatović: Das Größte ist bereits geschafft: ein Regierungswechsel. Die Institutionen der Justiz waren mit der ehemaligen Regierungspartei verbunden, die internationalen Berichten zufolge mit der organisierten Kriminalität in Verbindung stand. Derzeit werden der ehemalige Leiter des Obersten Gerichtshofs sowie der ehemalige Leiter des Handelsgerichts, der stellvertretende Sonderstaatsanwalt und eine Reihe von Personen aus der Polizeibehörde wegen Beteiligung an organisierter Kriminalität und Korruption im Rahmen des neuen Sondergerichts angeklagt. Wir sollten auch einen sanften Überprüfungsprozess aller Personen in der Justiz einleiten, einschließlich der Staatsanwaltschaft und der Gerichte. Unsere Justiz ist derzeit der schwächste Teil des Puzzles.

STANDARD: Im Kosovo verletzten jüngst serbische militante Extremisten 30 Nato-Soldaten der Kosovo-Streitkräfte (Kfor). Serbien ist kein Nato-Mitglied und hat seine Außenpolitik nicht an die der EU angepasst. Welche Auswirkungen haben diese Sicherheitsrisiken für Montenegro?

Milatović: Der Angriff auf die Kfor-Soldaten war absolut inakzeptabel. Diese Soldaten haben ja auch beim Schutz eines Teils des Erbes der serbischen Kirche im Kosovo recht gute Arbeit geleistet, was auch eine wichtige Verbindung zur Bevölkerung Montenegros darstellt, da die meisten Menschen in Montenegro auch Gläubige der serbischen Kirche sind. Um die Lage zu verbessern, sollten in den nördlichen Gemeinden des Kosovo Neuwahlen stattfinden. Und der Kosovo sollte den Verband für die nördlichen Gemeinden aufbauen.

STANDARD: Was sollte zuerst kommen?

Milatović: Die Wahlen.

STANDARD: Die Frage ist aber, ob die Serbinnen und Serben teilnehmen werden. Letztes Mal taten sie dies nicht.

Milatović: Sie sollten. Denn für einen Tango braucht man zwei.

Kosovo, Proteste
In den letzten Wochen eskalierte im Nordkosovo der Streit über Wahlen.
REUTERS

STANDARD: Vučić und der albanische Premierminister Edi Rama fördern die Initiative "Offener Balkan". Sollte Montenegro teilnehmen? Und was wäre der Mehrwert für die Bürger Montenegros? Der offene Balkan schafft eine weitere Zollunion, aber Montenegro möchte eigentlich Teil der Zollunion der Europäischen Union sein.

Milatović: Dieser Teil Europas war vor 50 Jahren der einzige ohne Grenzen. Jetzt ist es der einzige mit Grenzen. Alle unsere Volkswirtschaften sind miteinander verbunden, und der Vorteil für unsere Bevölkerung wäre, dass die Kosten an den Grenzen minimiert werden.

STANDARD: Wenn man von Serbien nach Nordmazedonien reist, kann man in jener Reihe an der Grenze warten, über der "Offener Balkan" steht. Es dauert aber genau so lange, durch die Grenze zu kommen, wie in einer anderen Reihe, wo nicht "Offener Balkan" steht. Was ist also der Mehrwert für die Bürger?

Milatović: Es ist ein Prozess. "Offener Balkan" war das Ergebnis eines sehr langsamen Fortschritts im Rahmen des Berlin-Prozesses, der vor zehn Jahren begann. Der Berlin-Prozess ist das Schlüsselelement für die regionale Integration. Das Problem beim Berlin- Prozess ist jedoch, dass immer alle sechs Länder zustimmen müssen. Und manchmal gibt es ein Problem, insbesondere zwischen Kosovo und Serbien. "Offener Balkan" ist deshalb auch eine Botschaft an die EU. Wenn es etwas gibt, das als Anreiz dient, die Dinge innerhalb des Berlin-Prozesses zu beschleunigen, ist das eine gute Sache. Montenegro ist Vorreiter bei der EU-Integration, und wir konzentrieren uns weiterhin auf die EU-Agenda und entspannen und normalisieren gleichzeitig die Beziehungen zu den Nachbarn. Für Montenegro ist dies besonders wichtig mit Serbien – wie zwischen Österreich und Deutschland. Wir teilen die gleiche Sprache, wir teilen die gleiche Kultur, und wir waren einmal ein Land.

STANDARD: Der Beitritt zum "Offenen Balkan" ist also eine Maßnahme zur Entspannung der Beziehungen zu Serbien, weil Serbien dies will?

Milatović: Ich denke das. 60 Prozent der Montenegriner möchten, dass Montenegro der Initiative beitritt.

STANDARD: Aber was wäre der konkrete Nutzen für die Bürger?

Milatović: Die Wahrnehmung einer Lockerung der Beziehungen zu Serbien.

STANDARD: Als Minister haben Sie den Mindestlohn angehoben, was zu noch mehr Schulden im Land geführt hat.

Milatović: Das ist nicht wahr. Der Mindestlohn für Montenegro lag vor dem Regierungswechsel bei etwa 200 Euro. Aber die meisten Arbeitgeber zahlten nur formal 200 Euro, informell jedoch aufgrund des Wirtschaftswachstums mehr, etwa 400 beziehungsweise 500 Euro. Der Haushalt wurde stark von dieser Schattenwirtschaft beeinflusst. Wir sind deshalb gegen die Schattenwirtschaft vorgegangen und haben den Mindestlohn auf 450 Euro angehoben. Zweitens machte der Gesundheitsfonds Montenegros bereits in den letzten 15 Jahren große Verluste.

Um nachhaltig zu werden, hätte man die Sozialversicherung im Gesundheitsbereich erhöhen und die Nettogehälter senken müssen. Wir sind also vollständig vom Bismarck-System der Sozialbeiträge zur Gesundheit zu einem System übergegangen, das mehr mit der skandinavischen und angelsächsischen Welt zu tun hat. Aufgrund der Streichung der Sozialversicherungsbeiträge kam es zu einem starken Anstieg des Nettolohns, was den Gesamtkonsum der Gesellschaft steigerte. Wir haben dann im Budget eine viel höhere Mehrwertsteuer für das Gesundheitswesen zur Verfügung gehabt.

STANDARD: Nach Angaben der Weltbank ist das Konsumniveau aufgrund der hohen Inflation immer noch nicht so hoch wie vor der Krise. Und aufgrund dieser Inflation waren die höheren Löhne nur auf dem Papier höher.

Milatović: Das ist nicht wirklich wahr. Im vergangenen Jahr lag die Inflationsrate zwischen zehn und fünfzehn Prozent. Der Anstieg des Nominallohns betrug jedoch etwa 30 Prozent. Wir haben auch die elektronische Fiskalisierung eingeführt – und infolgedessen waren die öffentlichen Finanzen im ersten Halbjahr des letzten Jahres wahrscheinlich die besten in der Geschichte. Letztes Jahr hatten wir aber einen Regierungswechsel, und es wurde eine Reihe zusätzlicher Ausgaben eingeführt, ohne sich wirklich mit der Einnahmenseite des Haushalts zu befassen. Die Regierung erhöhte die Gehälter des öffentlichen Sektors, der Polizei, der Armee und der Beamten erheblich.

Montenegro Wahl
Wahlplakate in Montenegros Hauptstadt Podgorica.
REUTERS/Stevo Vasiljevic

STANDARD: War das nur eine Maßnahme vor den Wahlen – oder geht das so weiter?

Milatović: Ich denke, dass viele halbpopulistische Maßnahmen ergriffen wurden. Irgendwann müssen wir damit aufhören. Hoffentlich bis zu den Wahlen.

STANDARD: Vor ein paar Wochen fand hier in Montenegro eine Konferenz von Interessenten für Kryptowährung und Langlebigkeit statt. Diese Leute denken, dass Montenegro ein Zentrum dafür sein könnte. Was denken Sie?

Milatović: Wenn es unserem europäischen Weg nicht schadet, dann ja, aber wenn uns das von unserem schnellen EU-Beitritt abhalten könnte, bin ich nicht dafür. Wir müssen etwas besser verstehen, ob diese Vorhaben vollständig mit der EU-Verordnung in Einklang stehen oder nicht. Das ist immer noch Teil der Diskussion zwischen den montenegrinischen Behörden und diesen Unternehmen. Alle Gesetze des montenegrinischen Parlaments sollten zunächst von der Europäischen Kommission geprüft werden.

STANDARD: Wann könnte Montenegro der EU beitreten?

Milatović: Der Beitritt sollte hoffentlich bis 2027 oder 2028 erfolgen. Bis 2026 könnten wir bereit sein, dann beginnt die Ratifizierung. Ich habe während des EPC-Gipfels etwa 30 europäische Staats- und Regierungschefs getroffen und werde eine große Sichtbarkeitskampagne in den europäischen Hauptstädten starten, um den Wandel darzustellen, der in Montenegro stattgefunden hat. (Adelheid Wölfl, 10.6.2023)