Stefan Brändle aus Paris

Emmanuel Macron mit Henri
Präsident Emmanuel Macron (links) empfing am Freitag den beherzten Retter Henri (rechts).
AFP / Denis Balibouse

An dem idyllischen Seeufer, an dem am Vortag der Horror unmenschlicher Jagdszenen geherrscht hat, führen Mütter wieder ihre Sprösslinge im Kinderwagen aus. "Jetzt erst recht!", sagt eine Frau, der man hinter ihrer Sonnenbrille die Spannung anmerkt. "Wir werden jeden Tag in diesen Park zurückkommen, um zu zeigen, dass wir standhalten."

Standhalten. Die Angst meistern, die Bilder bewältigen. Bilder von einem jungen Mann in Shorts, mit Bandanatuch und einem blitzenden Messer. Bilder seines Angriffs auf den Spielplatz im ufernahen Stadtpark von Annecy, dieser beschaulichen Alpenstadt. Unerträgliche Bilder vom Einstechen auf Zwei- und Dreijährige im Kinderwagen.

Die Verletzten, vier Kinder und zwei Erwachsene, haben glücklicherweise überlebt. Zwei Kleine waren am Freitag noch auf den Notfallstationen in Annecy und Grenoble, schwebten aber nicht mehr in unmittelbarer Lebensgefahr. Präsident Emmanuel Macron und seine Frau Brigitte statteten dem Arztpersonal einen Besuch ab. Im Park hinterlegten Passanten Blumen, Plüschtiere und Ballons. Auf einem stand: "Für unsere Kinder, unsere Herzen." Eine ältere Frau erklärte: "Es ist die Unschuld, auf die gezielt wurde."

Obdachloser mit "schwerer Depression"

Der 31-jährige Angreifer, ein Syrer, der während der vergangenen zehn Jahre in Schweden gelebt hatte, äußerte sich in Polizeigewahrsam nicht zu seinen Motiven. Er sei stumm geblieben, aber höchst angespannt, habe sich sogar auf dem Boden gewälzt, verlautete aus Polizistenkreisen. Laut seiner Mutter, die Pariser Medien telefonisch in den USA aufspürten, litt ihr Sohn Abdelmasih an einer "schweren Depression". Seit vergangenem Herbst lebte er obdachlos in Annecy, zuletzt auf einer Kartonmatratze in einem Hauseingang neben dem Stadtpark.

Anwohner schilderten ihn als schweigsam, unauffällig. Zuletzt habe er sehr nervös gewirkt. Offenbar hatte er erfahren, dass sein französisches Asylgesuch abgewiesen worden war. Tage später schritt er zur Tat. Bei seinem Amoklauf schrie der aus einer christlichen Stadt Ostsyriens stammende Mann auf Englisch "im Namen von Jesus".

Zum Glück sah und hörte das ein Passant außerhalb des Parks. Er heißt Henri und ist der neue Held Frankreichs, da er wohl mehrere Kinderleben gerettet hat. Er rannte nicht weg, sondern herbei, als er merkte, dass der Angreifer auf Kinder losging. "Ja, ich habe alles gesehen", bestätigte der 24-jährige Philosophie- und Managementstudent später mit einem gequälten Ausdruck in eine Kamera. Er sagte, sein Gehirn habe sich sozusagen ausgeschaltet, als er dem Angreifer nachgerannt sei. Geschickt versuchte er, ihn mit Schlägen seines Rucksacks – seiner einzigen Waffe – vom Spielplatz zu vertreiben, ohne ihm selber zu nahe zu kommen.

Asylanträge in mehreren Ländern

Henri, der Kinderretter, den am Freitag auch Macron traf, ist praktizierender Christ. Er war zu Fuß und per Autostopp durch Frankreich unterwegs, um Kathedralen zu besuchen und von seinem persönlichen Pilgerweg über die sozialen Medien zu berichten. Er bestätigte die Jesus-Rufe des Angreifers, aber er weiß auch: "Es ist unmöglich, im Namen Jesu Kinder töten zu wollen."

Etwas weiter, auf einer Parkbank, erzählt Pensionist Youssouf mit einem Verband am Ellbogen, wie ihn der Täter nach Verlassen des Spielplatzes entdeckt und mit dem Messer angegriffen habe. Er selbst verteidigte sich mit dem linken Arm, dann kam schon die Polizei. Zu viert überwältigten sie den Angreifer.

Innenminister Gérald Darmanin berichtete später, der festgenommene Syrer habe in Schweden Flüchtlingsstatus erhalten und sei dort auch verheiratet gewesen. In jüngster Zeit habe er zudem in Frankreich, Italien und der Schweiz Asyl beantragt. Die französische Politik brauchte nur Stunden, um sich des Amoklaufs zu bemächtigen. Die Rechtspopulistin Marine Le Pen machte das Asylwesen der EU verantwortlich: Das Asylverfahren des Täters in Frankreich habe zu lange gedauert.

Die Linke wiederum wirft Macron, der sofort nach Annecy gereist ist, vor, er warte nicht ab, bis sich die nationalen Emotionen etwas gelegt hätten. Damit wolle er von seiner Pensionsreform ablenken. Umso hitziger dürfte die Debatte über das neue Immigrationsgesetz werden, das in Paris in Bälde vor das Parlament kommen soll. (Stefan Brändle aus Paris, 9.6.2023)