Der Wahlexperte Robert Stein schreibt in seinem Gastkommentar über das Auszähldebakel beim Linzer SPÖ-Parteitag und wundert sich über den Ablauf.

"Fake News" – davon bin ich ausgegangen, als ich am vergangenen Montag zum ersten Mal Kenntnis vom Vertauscht-worden-Sein der Stimmen auf dem zurückliegenden Bundesparteitag der SPÖ Kenntnis erlangt habe. Nur einmal zuvor habe ich mich bei einer Schlagzeile in gleicher Weise verschätzt, nämlich als die Meldung über den Rücktritt von Papst Benedikt als Eilmeldung verbreitet worden ist.

"Unfassbar" – das war meine Einschätzung, als der Vorgang mit dem Vertauschen der auf die Bewerber entfallenen Stimmen zur Gewissheit wurde. Vor allem die Frage, was passiert wäre, hätte ein Journalist nicht auf einen völlig irrelevanten Fehler beharrlich aufmerksam gemacht, wird wohl für immer im Raum stehen. Hat am Ende nur dieser eigentlich zu vernachlässigende Fehler dem Wahlsieger zu seinem Erfolg verholfen?

Der außerordentliche Parteitag der SPÖ in Linz schreibt mit seinem Wahldesaster Geschichte: Andreas Babler bei seiner Stimmabgabe.
APA/GEORG HOCHMUTH

Allzu oft, wenn auch teilweise schon lange zurückliegend, war ich bei der Auszählung von mehreren Hundert Stimmen durch eine Wahlkommission dabei, sei es, dass es sich um eine in der SPÖ nach ihren Statuten gebildete Kommission gehandelt hat, sei es, dass es sich – vor dem Beginn meines Tätigwerdens in der Abteilung für Wahlangelegenheiten – um die Auszählung von Stimmen des zweiten Wahlgangs einer Bundespräsidentenwahl durch eine Sprengelwahlbehörde gehandelt hat.

Eingespieltes "Ritual"

Stets ist die Auswertung nach einem eingespielten "Ritual" über die Bühne gegangen: Kuverts werden gezählt und danach aufgeschnitten, dann werden die Stimmzettel ebenfalls gezählt. Meist werden davor Tische zusammengeschoben, um die herum alle Mitglieder der Kommission Aufstellung nehmen können. In der Folge bilden die Mitglieder mit den auf die jeweilige Person lautenden Stimmzetteln "Zehnerstöße" und fügen diese zu "Hunderterstößen" zusammen. Rasch ist dieser Vorgang abgeschlossen, und alle Kommissionsmitglieder können mit freiem Auge erkennen, wer gewonnen hat. Wenn die Summe der von den Bewerberinnen oder Bewerbern erzielten Zahlen, zuzüglich der Zahl der von der Kommission – immer mit Gremialbeschluss – als ungültig eingestuften Stimmzettel, mit der Zahl der laut Abstimmungsverzeichnis abgegebenen Stimmen übereinstimmt, so liegt ein konsolidiertes Ergebnis vor, das in einem Protokoll erfasst wird, welches von allen Mitgliedern der Kommission unterschrieben wird.

Gibt es Diskrepanzen, so muss nachgezählt werden. Aber wenn jemand Zweifel hat, bleibt es ihr oder ihm so oder so unbenommen, die Zehnerpackerln mit "Daumenkino" rasch nachzuprüfen. Lediglich bei sehr knappen Ergebnissen, zum Beispiel bei Differenzen von weniger als fünf Stimmen, ist es angezeigt, alle Pakete sehr genau einzeln nachzuzählen.

Die Vorgangsweise, dass jeweils zwei Personen eine Urne auswerten, wie dies beim Parteitag gehandhabt wurde, ist befremdlich, aber nicht von vornherein zu verurteilen. Klar ist aber, dass, wird eine solche Vorgangsweise gewählt, Mitglieder von anderen Untergruppen die Stimmzettel wechselseitig nachzählen müssten. Typisch ist, dass bei einem solchen Prozedere mehrere Mitglieder parallel Notizen machen und das Ergebnis "mitberechnen", naheliegend Mitglieder, die den verschiedenen Parteien oder Strömungen zuzurechnen sind. Das Eintragen der Werte in eine MS-Excel-Tabelle ist ein durchaus gangbarer Weg.

Mit Unterschrift

Indiskutabel ist es jedoch, dass die zusammenzufassenden Werte nicht zumindest zweimal getrennt erfasst und verarbeitet werden, sei es auf Papier, sei es in einer weiteren – unabhängig entwickelten – MS-Excel-Tabelle. Die Generierung einer Tabelle mit dem mächtigen Tabellenkalkulationsprogramm nimmt mit der Aufgabenstellung des Sonderparteitags weniger als fünf Minuten in Anspruch. Jedenfalls müssen am Ende des Prozederes alle Mitglieder einen Überblick über den Ablauf der Auszählung haben, müssen sie diesen doch durch Unterschrift bestätigen.

Oftmals habe ich in den letzten Jahrzehnten in Diskussionsrunden nicht ohne Stolz und manchmal mit einem Augenzwinkern bezüglich anderer Parteien darauf hingewiesen, dass die innerparteiliche Demokratie in der SPÖ "zelebriert" wird, mit Wahlurnen, Wählerverzeichnissen, Wahlzellen, und mit dem Zwang, vor Einwerfen eines Stimmzettels in eine Urne in jedem Fall die Wahlzelle aufzusuchen. Ich habe diese Ansicht mit Überzeugung vertreten und war daher umso mehr aufgrund der aktuellen Ereignisse sehr enttäuscht.

Der neue Vorsitzende der SPÖ wird daher, auch wenn das Ergebnis der Stimmauszählung letztendlich akzeptiert wird, gut beraten sein, die an sich vorhandenen Regelwerke der Partei, also Statuten und Regulative, auf ihre Handhabbarkeit überprüfen zu lassen und dafür zu sorgen, dass auch in der Partei bezüglich der Durchführung von Wahlen das Verantwortungsbewusstsein der handelnden Personen gestärkt wird, wie dies auf "staatlicher" Ebene bei den Wahlbehördenmitgliedern nach der Aufhebung der Stichwahl zur Bundespräsidentenwahl im Jahr 2016 der Fall war, ganz gleichgültig, ob die im Raum gestandenen Vorwürfe jemanden tangiert haben oder nicht. (Robert Stein, 10.6.2023)