"A Day Is a Hundred Years" im Odeon: Bunte Baumskulpturen werden zu einer Installation der Träume.
Illias Teirlinck

Die unkonventionelle Idee, das Bühnenbild in den Mittelpunkt der Entwicklung von Performances zu stellen, hat Jozef Wouters und seine Kunstvereinigung Decoratelier zu einem vielbeachteten Faktor der belgischen freien Szene gemacht. Aktuell legt der 37-Jährige im Odeon ein neues Werk nach: "A Day Is a Hundred Years" wird von Barry Ahmad Talib, Migrant aus Guinea, verantwortet. Talib arbeitet als integrative Figur für Wouters' Decoratelier im Brüsseler Stadtteil Molenbeek. Das Atelier hat sich zu einem Kulturzentrum ausgeweitet, in dem junge Kunstschaffende, Technikerinnen und Handwerker zusammenarbeiten.

Nun aber ist Feuer auf dem Dach. Das Gebäude, in dem man sich eingerichtet hat, soll zu einem schick designten "Kultur-Hub" umgebaut werden. Leider gehen bei solchen Renovierungen fast immer die kreative Atmosphäre und die aus erfinderischer Improvisation entstandene Lebendigkeit eines Gebäudes verloren. Auch im erst armen, migrantisch geprägten, dann bei Kulturleuten hip gewordenen Molenbeek hat ein Gentrifizierungsprozess begonnen. Das aufzuzeigen bildet hier einen Aspekt. Der andere ist die Biografie von Talib. Er hat zu Hause in Conakry einen Kiosk betrieben, der sich zu einem beliebten sozialen Ort auswuchs, bevor sich der Künstler entschloss, nach Europa auszuwandern.

Eine geglückte Performance

Im Stück wird Talibs Welt zum Teil eines choreografierten Bühnenbilds. Dort gerät eine barock anmutende Raumflucht in Bewegung. Die nachgebaute Fassade des Decoratelier-Gebäudes wird integriert und die Betriebsamkeit des Kunstzentrums dargestellt. Dessen Vitalität endet mit dem schicken neuen "Hub", dessen geglättete Fassade mit Glasfenstern das Äußere des alten Gebäudes ersetzt. Auf der permanent rotierenden Bühne wird Wouters’ Atelier in eine Hohlwelt umkonstruiert, in deren Zentrum die Tür zu einem blauen Zylinder mutiert. Talib baut große, bunte Baumskulpturen zu einer Installation der Träume zusammen. Wouters reizt das Drehmoment maximal aus und unterstreicht das Improvisierte als Ausdruck künstlerischer Lebendigkeit. Eine geglückte Performance. (Helmut Ploebst, 9.6.2023)