Sebastian Borger aus London

Neuerlicher Bürgerkrieg in der konservativen Regierungspartei: Mit schweren Vorwürfen gegen das Parlament im Allgemeinen und seine Fraktionskollegen im Besonderen hat Ex-Premier Boris Johnson am Freitagabend mit sofortiger Wirkung sein Mandat niedergelegt. Gegen ihn sei "eine Hexenjagd im Gange, um Rache für den Brexit zu nehmen und das Resultat der Volksabstimmung zu revidieren", behauptete der 59-Jährige in seiner Rücktrittserklärung. Daran seien auch Konservative beteiligt. Die fällige Nachwahl im West-Londoner Bezirk Uxbridge stürzt die Regierung von Johnsons Nachfolger Rishi Sunak in eine schwere Krise.

Das politische London hatte sich längst ins Wochenende verabschiedet, da ging um kurz nach 20 Uhr Ortszeit die Eilmeldung über den Ticker: Johnson verlässt das Unterhaus. Zuvor hatte der Integritätsausschuss des Parlaments dem 59-Jährigen den Entwurf eines Berichts zugestellt, in dem es um die Lockdown-Partys in der Downing Street geht. Offenbar sind die Parlamentarier zu dem Schluss gekommen, Johnson habe wissentlich das Parlament belogen. "Ich bin fassungslos und entsetzt darüber, dass man mich zum Rückzug zwingen kann", lautete Johnsons Kommentar.

Boris Johnson vor der Downing Street 10
AP/Alastair Grant

Faktisch ist dies nicht korrekt: Der Ausschuss muss die gesamte Parlamentskammer um Zustimmung für etwaige Sanktionen bitten. Diese reichen von einer öffentlichen Entschuldigung bis zu einer längeren Suspendierung des betroffenen Mandatsträgers. Fällt dieser Zwangsurlaub länger als zehn Tage aus, steht es den Wahlbürgern im betroffenen Distrikt frei, eine Nachwahl herbeizuführen. Erst diese Woche hatte eine detaillierte Umfrage in Uxbridge den Schluss nahegelegt, der weiterhin populäre Ex-Premier könne diesen Urnengang für sich entscheiden.

Bei seiner stundenlangen Befragung durch das Komitee im März hatte sich Johnson erneut für die Lockdown-Partys entschuldigt, die ihm in letzter Konsequenz das Amt kosteten, weil ihm das eigene Kabinett das Vertrauen entzog. Alle Aussagen im Parlament habe er "in gutem Glauben" getätigt. Der Ausschuss handele "offensichtlich unfair", weil er immer nur belastende Dokumente veröffentliche. Dabei gebe es "keinerlei Beweise" für "vorsätzliche oder leichtsinnige" Lügen.

Allerdings hatte im vergangenen Monat das Kabinettsbüro der Kriminalpolizei sowie dem Ausschuss neue Dokumente zur Verfügung gestellt, die an Johnsons Version der Wahrheit zweifeln ließen.

Nadine Dorries mit Johnson beim Besuch eines Bauernhofs.
APA/AFP/POOL/BEN BIRCHALL

Früher am Freitag hatte schon Ex-Kulturministerin Nadine Dorries, eine von Johnsons treuesten Gefolgsleuten, dem amtierenden Premier die Suppe versalzen. Nachdem ihr der Wechsel ins Oberhaus versagt worden war, legte sie ihr Mandat nieder; noch am Vormittag hatte sie beteuert, sie wolle die fällige Nachwahl vermeiden.

Während Dorries‘ ohnehin erstaunliche politische Karriere gewiss ihr Ende erreicht haben dürfte, waren sich die Kommentatoren in London über Johnsons weiteres Schicksal uneinig. Der BBC-Politikchef Chris Mason verwies auf Johnsons Rücktrittsschreiben, in dem davon die Rede ist, der Konservative verlasse das Parlament "fürs Erste". Uxbridge war bereits der zweite Wahlkreis des Populisten; zuvor hatte er von 2001 bis 2008 dem Unterhaus für den Bezirk Henley an der Themse westlich der Hauptstadt angehört. Unterbrochen waren die beiden Perioden im Unterhaus von der achtjährigen Amtszeit als Londons Bürgermeister.

Konflikt in der Tory-Party

Ob der nun erneut aufgebrochene Konflikt in der seit mehr als 13 Jahren amtierenden Tory-Party zu einer vorgezogenen Neuwahl führen könnte? Eigentlich rechnete man in London damit, dass Premier Sunak die fünfjährige Legislaturperiode so weit wie möglich ausschöpfen will – ein Wahltermin im Herbst 2024 galt bisher am wahrscheinlichsten.

Schon bisher haben 56 Mandatsträger angekündigt, sie wollten dem Unterhaus dann nicht mehr angehören. Die Mehrheit gehört den Konservativen an, was angesichts der Umfragen wenig verwunderlich ist: Denen zufolge steuert die Labour-Opposition auf einen Erdrutschsieg zu. Überraschend kam hingegen der Entschluss der langjährigen Galionsfigur und einzigen Mandatsträgerin der Grünen angekündigt, sie wolle sich nicht mehr um ihr Mandat bewerben. Sie brauche, findet Caroline Lucas, "mehr Zeit für den Kampf gegen die Natur- und Klimakrise".

Zur Prominenz der Amtsmüden zählen konservative Ex-Minister wie Dominic Raab (Außenamt, Justiz) ebenso wie Sajid Javid (Finanzen, Inneres, Gesundheit), aber auch Veteraninnen der Labour -Partei wie die einflussreiche Hinterbänklerin Margaret Hodge (78) oder die Ex-Vizeparteichefin Harriet Harman.

Dass die 72-jährige Anwältin den Integritätsausschuss leitet, ist einer der vielen Punkte von Johnsons bitterer Kritik am laufenden Verfahren. Premier Sunak wird viel Geschick brauchen, um seine schlingernde Regierung auf Kurs zu halten. (Sebastian Borger aus London, 9.6.2023)