Teodor Currentzis
Teodor Currentzis in Aktion.
Markus Aubrecht

Wien – Am Ende des Konzerts schien der Himmel auf Erden Wirklichkeit geworden zu sein. Selig lagen sich die Musizierenden aus 31 Ländern am Freitagabend in den Armen, und das Publikum im Großen Konzerthaussaal jauchzte und jubelte stehend über eine Interpretation von Mahlers dritter Symphonie, die so superintensiv war wie jene des selben Werks von Teodor Currentzis und dem SWR-Symphonieorchester vor viereinhalb Jahren. Dem Griechen mit russischem Pass und seinem neuen "Best-of-the-West"-Orchester Utopia (siehe DER STANDARD vom 5.10.2022) scheint sein Publikum nach wie vor zu Füßen zu liegen. Doch hat sich hinter den Kulissen die Stimmung schon längst gedreht?

Abrücken

Denn einige renommierte Veranstalter scheinen von Utopia und Teodor Currentzis abzurücken. Das Wiener Konzerthaus gewährt seinem eigenen Ehrenmitglied in der nächsten Saison keine Auftritte mehr. Und dies, obwohl Intendant Matthias Naske ein früher und enger Förderer von Currentzis war und für dessen Schweigen zum russischen Überfall auf die Ukraine lange um Verständnis warb.

Statt in Wien wird Utopia im Herbst 2023 (mit Tschaikowskys Fünfter) in Brescia und Antwerpen gastieren – nicht unbedingt zentrale Metropolen der Klassikwelt. Und für das Frühjahrsprojekt 2024, Bruckners Neunte, listet die Homepage von Teodor Currentzis gerade einmal einen (!) Auftritt auf. Von einer Agentur wird das bei seiner Gründung von der Kunst und Kultur DM Privatstiftung (des verstorbenen Milliardärs Dietrich Mateschitz) unterstützte Projektorchester nach Angaben des Konzerthauses auch nicht mehr vertreten.

Auch bei einigen Spitzenorchestern scheint man die Unternehmung kritisch zu sehen. Als im vergangenen Herbst eine Hornistin der Berliner Philharmoniker bei einem Utopia-Konzert für einen erkrankten Kollegen eingesprungen war, zeigte sich das Orchester darüber wenig glücklich: "Hätte sie gefragt, hätten wir abgeraten", so die Pressesprecherin der Berliner auf Anfrage. Und auch von den Wiener Philharmonikern, die vor einem halben Jahr noch einen begeisterten "Utopisten" stellten, ist nach Auskunft des Orchesters aktuell kein Vereinsmitglied beteiligt.

Utopia
Blick auf die Utopia-Vorführung.
Markus Aubrecht

Das Who is Who

Die von Utopia ans Konzerthaus übermittelte Liste der Heimatorchester der Mitwirkenden liest sich trotzdem wie das Who-is-Who der europäischen Spitzenorchester – wenn man dieser Aufstellung denn uneingeschränkt glauben kann. Die Berliner Philharmoniker, die darauf genannt werden, wissen nichts von einer Beteiligung aktiver Orchestermitglieder; möglicherweise würde ein ehemaliger Fagottist mitspielen, so die Pressestelle. Auf der Liste mit 41 Klangkörpern – die Namen der Musizierenden werden nicht genannt - stehen auch das St. Petersburger Ensemble von Currentzis, musicAeterna, und das Russian National Orchestra.

So verworren die Situation backstage zu sein scheint, so klar und bestimmend hielt Teodor Currentzis beim Auftritt von Utopia die Fäden in der Hand. Das Pandämonium im gewaltigen Kopfsatz der Dritten bekam unter anderem durch die Beweglichkeit des Blechs eine dreidimensionale Plastizität. Die Streicher wurden zu einem Kollektiv von Erregungsherden, deren flammende Aktivität von einer körperlichen Intensität geprägt war. So wie Currentzis in Russland die Kreml-nahen Förderer von musicAeterna, darunter die russische Zentralbankpräsidentin, die VTB Bank und Gazprom, zu begeistern weiß, so virtuos animiert der 51-Jährige auch seine Musiker:innen: Deren strahlende Freude an der Gefolgschaft dieses – musikalisch - genialen Dirigenten könnte mit dem Begriff Hörigkeit beschrieben werden.

Nach dem vokalen Wirken der wundervollen Nietzsche-Interpretin Wiebke Lehmkuhl, der Wiener Sängerknaben („Bimm bamm“) und der Damen der Wiener Singakademie trimmte Currentzis den Beginn des langsamen Schlusssatzes etwas zu sehr auf schleierzarte Transparenz (Mahler: „sehr ausdrucksvoll gesungen“), Tränen wollten sich da nur bei Lehmkuhl einstellen. Der finale Höhepunkt allerdings war von einer Majestät, wie wenn sich ein gigantischer goldener Tempel plötzlich aus dem Erdreich erhöbe. Und so ließ Mahlers groß angelegtes Plädoyer für die Liebe zumindest für einige Minuten alle Kriege und alles Leid dieser Welt vergessen. (Stefan Ender, 10.6.2023)