Es beginnt, wie könnte es anders sein, mit "Imagine" von John Lennon. Der Lorely-Saal im Westen Wiens, welcher nach dem Rausschmiss aus den ÖGB-Räumlichkeiten kurzfristig angemietet werden musste, ist an diesem Samstagvormittag sehr gut gefüllt. Rund 300 Leute sind gekommen. Durchschnittsalter 50 plus. Die von den Veranstaltern erwarteten Protestierenden tauchen nicht auf. "Alles unauffällig" sagt einer der Sicherheitsleute, die nicht unbedingt sofort als solche erkenntlich sind. Flugblätter, Buttons und Fahnen säumen den Saal und den Vorraum. Grafikdesigner scheinen eher weniger verhaftet zu sein in der Friedensaktivismusszene.

An Flyern fehlt es nicht.
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Jemand betritt die Bühne, um den Start der Veranstaltung abermals ein paar Minuten nach hinten zu verschieben. Die Registrierung dauere so lange, weil man aufgrund der Umstände „besonders genau hinschauen müsse", heißt es. Plötzlich beginnt im Hintergrund schon Noam Chomsky zu sprechen. Man legt also doch los. Der Linguist und Linksaktivist Chomsky hält eine erwartbare Zoom-Rede, in der er der Ukraine zwar nicht ihr Verteidigungsrecht abspricht, aber wiederholt vage sagt, dass es halt doch sehr viele Alternativen gebe, wie Frieden geschaffen werden könnte. Laut Chomsky sei die die Weltgemeinschaft für einen Frieden in der Ukraine bereit, doch die USA würden die Fortsetzung des Kriegs fördern. Ein Narrativ, das an diesem Tag noch öfter, viel deutlicher ausgesprochen werden sollte.

Es folgte ein lautes Krachen, welches die Videobotschaft eines guatemaltekischen Bischofs ankündigt. Nur versteht sie kaum jemand. Weil sie erstens auf Spanisch ist und von einem älteren Herrn live gefühlt nur jedes fünfte Wort simultan übersetzt wird.

"Gerechter" Friede

Gerhard Kofler von AbFaNg Austria, dem Aktionsbündnis Frieden, aktive Neutralität & Gewaltfreiheit, eröffnet dann als einer der Veranstalter den Friedensversuch "im neutralen Österreich". Er meint, wenn dank dieser Veranstaltung auch nur fünf Menschen weniger in der Ukraine sterben würden, dann hätte sie ihren Sinn schon erreicht. Vom STANDARD darauf angesprochen wie konkret das funktionieren solle, hat er nicht wirklich eine Antwort parat, fordert eine Umgestaltung des UN-Sicherheitsrats und einen Lehrstuhl für Friedensforschung in Österreich und sagt man müsse einfach ernsthafter über den Frieden diskutieren. Kofler ist der Typ Mensch, dem man seinen Wunsch nach Frieden wirklich abnimmt. Lediglich über den Weg dahin vermag er nicht immer überzeugende Argumente zu liefern. Er ist nicht allein hier.

"Waffenstillstand heißt zunächst, dass das tägliche Töten und Morden aufhört und dadurch Wege für Verhandlungen eröffnet werden, die untragbare Zustände zu überwinden helfen", erklärte Co-Organisator Reiner Braun seine zentrale Forderung. Auf die Frage, ob eine derartige Maßnahme in der Ukraine nicht zur Festschreibung von militärischen Gebietsgewinnen durch Russland führen würde, meinte er, dass ein Waffenstillstand manchmal zum Einfrieren von Konflikten geführt habe. Es bedürfe eines politischen Willens, dass es nicht dazu komme.

Sean Conner vom International Peace Bureau, dem zweiten Hauptveranstalter folgt als Sprecher. Der Krieg müsse zu einem "gerechten und friedvollen" Ende finden. Die Geschichte habe gezeigt, dass Kriege nicht auf dem Schlachtfeld entschieden werden, sagt er, wohingegen die Geschichte sehr wohl gezeigt hat, dass Verhandlungslösungen nach einem Krieg oft die militärische Niederlage eines Konfliktpartners oder ein Patt vorausging. "Zuhören und lernen" solle man, auch wenn man anderer Meinung sei.

Der Frieden müsse nicht nur zwischen Staaten entstehen, "der Frieden muss zwischen uns entstehen", sagt Conner. Im STANDARD-Gespräch ist er jedoch bemüht zu sagen, dass er freilich nicht die komplexe Lösung für diesen „gerechten Frieden" parat habe. Zumindest spricht er jedoch die Rechenschaft Russlands für die begangenen Kriegsverbrechen an und sagt, dass die "Frage der territorialen Integrität" natürlich auch Teil eines langanhaltenden Friedens sein müsse, der garantiere, dass Russland nicht mehr intervenieren kann. Nachsatz: natürlich müsse man aber schauen, ob der Westen immer richtig gehandelt hat.

Einer spontanen Gesangseinlage von Rosa Logar von der Women’s International League for Peace Austria, "it is time for the money, to shift from war into peace" schließen sich viele im Saal an, ehe mit Jeffrey Sachs der berühmteste Speaker der Veranstaltung die Bühne betritt. Nun, er ist via Video zugeschalten und nicht zu sehen, sondern lediglich zu hören. Zehn Minuten und etwa zehn Verunglimpfungen der Mainstream-Medien später taucht er aber plötzlich auch auf dem Bildschirm auf.

Verschwörungserzählungen

Seine Rede erfüllt jedes Kriterium der klassischen Verschwörungserzählung. Er betont permanent Inside-Infos aus dem Weißen Haus und von ranghohen Regierungsmitgliedern zu haben, welche vermeintlich belegen würden, das alles Böse in der Welt, jeder große Konflikt der vergangenen Jahre, nur auf die USA und deren Interventionswillen zurückzuführen seien. Der syrische Bürgerkrieg wird dann schnell mal zum "sogenannten syrischen Bürgerkrieg", der russische Angriffskrieg sei ein Krieg zwischen zwei globalen Fronten.

Sachs spricht viel über angeblich von den USA und Großbritannien torpedierte Friedensverhandlungen im März 2022, behauptet fälschlicherweise, dass die internationale Presse darüber nie berichtet hätte und vergisst aber zu erwähnen, dass zur gleichen Zeit erstmals Informationen über die Kriegsverbrechen in Butscha ans Tageslicht kommen. Generell findet sich für russische Kriegsverbrechen in seiner Rede kein Platz, dafür aber für den Wunsch mit dem Chefredakteur des STANDARD zu sprechen. Er habe was zu klären, auch oder gerade weil DER STANDARD der Veranstaltung im Vorfeld Propagandaverdacht nahelegte.

Dem ukrainischen Staat gestand auch Braun vorab im APA-Gespräch derzeit kein Recht mehr auf Selbstverteidigung zu. Dieses habe für ihn nur bis zum April 2022 und dem Scheitern von russisch-ukrainischen Friedensverhandlungen in Istanbul bestanden, für das Braun ebenfalls die Nato und Großbritannien verantwortlich macht, nicht das mit brutaler Waffengewalt angreifende Russland. "Da hat sich der Krieg für mich verändert: Durch das Nato-Engagement ist er mehr zu einem Stellvertreterkrieg geworden und war nicht mehr Verteidigungskrieg", begründete er.

Reger Besuch.
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Im Zuge der Veranstaltung gibt es einige Konstanten: Dauernd läutet irgendein Handy und in erschreckender Regelmäßigkeit wird der Ausbruch des Krieges in der Ukraine alleine der Nato angelastet. Diese wolle sich demnächst sowieso nach Asien ausweiten, scherzt Sachs. Dass sich einige Staaten für ein Verteidigungsbündnis mit dem Westen entscheiden, eben weil sich Russland an keine Sicherheitsgarantien – etwa jene aus dem Budapester Memorandum – hält, kommt zumindest am Vormittag keinem Speaker in den Sinn. Auch dem Vizepräsidenten Boliviens David Choquehuanca nicht. Seine Rede ist voll und ganz in der Tradition der antiimperialistischen Linken Südamerikas, welche den Schuldigen in der Ukraine ebenfalls eher im Weißen Haus, als am Roten Platz sieht. Vielen spirituellen Querverweisen folgen nicht immer leicht zu folgenden Anekdoten gescheiterter Friedensversuche.

An der Einladungspolitik würde man nichts ändern. Auch trotz der vielen Last-Minute-Absagen, heißt es von den Veranstaltern. Hier sei gezielt und gesteuert von den Medien Druck aufgebaut worden. Von wem, das wisse man, aber wolle man nicht sagen. Glücklicherweise bietet die Speakerin Niamh Aine Ni Bhriain an, die Medien zum Löschen von Fotos aufzufordern, wenn das denn jemand im Saal möchte. Zumindest die Fotos des STANDARD will aber niemand löschen. Am Nachmittag sprechen Vertreter der ukrainischen und russischen Zivilgesellschaft. Beide scheinen aber keineswegs mehrheitsfähige Positionen in ihren Ländern zu vertreten.

Im Veranstaltungsraum gibt es dafür vielerlei angeregte Diskussionen. Vieles dreht sich um einen Waffenstillstand – man müsse reden! Wie man die Konfliktparteien zum Reden bekommt, da wird es schon schwieriger. Trotzdem gibt es immer wieder Rufe nach dem Waffenstillstand. Abseits von Alt-Linken und Antimperialeisten finden sich aber auch moderate junge Stimmen, die viele Redebeiträge als besonders schroff und teilweise verschwörungstheoretisch abtun. Man habe moderatere Meinungen, "europäischere" Meinungen, wie einer sagt. Aber man müsse eben zuhören.

Nina Potarska, von der Women's International League for Peace and Freedom, war es dann am frühen Nachmittag, die den rund 300 Friedensbefürwortern zum ersten Mal aus ukrainischer Sicht erklärte, was ein Waffenstillstand zum aktuellen Zeitpunkt wirklich bedeutet: eine Amputation. Ein Einfreieren. Familien würden weiterhin getrennt bleiben, der Konflikt selber würde nicht gelöst werden, Russland wohl wieder einmal illegal Land annektieren. Es gäbe keinerlei Garantie, dass es Russland nicht erneut versuche. Den Tränen nahe sagte die geflüchtete Frau, dass sie sich den Frieden wohl mehr als jeder andere im Raum wünsche. "Aber was meint ihr wirklich wenn ihr einen Frieden wollt", fragte sie. Songs zu singen während man im Frieden lebt sei ein Privileg, dessen man sich bewusst sein sollte. Im Gegensatz zu allen anderen Speakerinnen und Speakern, gab es während der Rede keinen Beifall, nachher bescheidenen Applaus und keine stehenden Ovationen wie bei den Vorrednern.

Viktor protestiert vor der Friedenskonferenz.
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Vor dem Konferenzgebäude trifft der STANDARD auf Viktor, 76 Jahre aus Cherson, zu Kriegsbeginn geflohen, spricht gutes Deutsch. Er ist gemeinsam mit einer weiteren Ukrainerin der einzige Demonstrant heute, er hat ein Plakat mitgebracht. Seine Heimat sei zunächst okkupiert, nun durch den Dammbruch überflutet worden. Es sei ihm wichtig zu sagen, auch jenen die es nicht hören wollen, dass Russland ein Terrorstaat sei. (Fabian Sommavilla, 10.6.2023)