Schwarze Schwäne, schrieb der libanesische Bestsellerautor Nassim Nicholas Taleb 2008, sind unwahrscheinliche, vor allem aber weithin unvorhergesehene Ereignisse, die den Lauf der Geschichte mit einem Schlag ändern: die Terroranschläge von 9/11 etwa, die Finanzkrise 2008 – oder, zuletzt, Russlands Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022. Seit einer Woche jagt die Ukraine im Nebel des Krieges ihrerseits diesem seltenen Vogel hinterher. Kiews Gegenoffensive soll in einen entscheidenden Überraschungsschlag münden, der Russlands Niederlage besiegeln und das überfallene Land befreien soll.

Doch wie erfolgreich setzt die Ukraine die vom Westen gelieferten Waffen ein? Und wie ist es der russischen Armee gelungen, den Vorstößen bisher weitgehend standzuhalten? DER STANDARD hat einige Lehren aus der vergangenen Woche gezogen.

Kiews Verschleierungstaktik war erfolgreich

Monatelang hatte die ukrainische Polit- und Militärführung Freund und Feind im Unklaren gelassen, wann und wo man zuschlägt – mit teilweisem Erfolg, wie sich anhand erster Geländegewinne am Wochenende zeigt. Auch wenn von einem Durchbrechen der russischen Linien noch keine Rede sein kann, ist es der ukrainischen Armee jedenfalls punktuell gelungen, die Invasoren zu überrumpeln. Einige – meist kleine – Siedlungen in den Oblasten Donezk und Saporischschja wurden am Wochenende befreit – wenn auch unter vermutlich beträchtlichen Verlusten.

Ukrainische Truppen erobern Ortschaft.
Ukrainische Truppen haben eigenen Angaben zufolge am Montag die Ortschaft Storoschewe erobert.
Reuters/Facebook

Etwa 20 Quadratkilometer groß ist das Gebiet, das die ukrainische Armee südlich von Welyka Nowosilka zuletzt zurückerobern konnte. Wie sehr die Offensive der Ukraine auch im Informationsraum ausgefochten wird, zeigt die Reaktion aus Moskau: Dort heißt es, die Ukraine habe lediglich "Grauzonen" erobert, die Russland aufgegeben habe.

Hauptangriff steht noch aus

Ex-US-General Ben Hodges macht den 4. Juni als vermutlichen Beginn der Gegenoffensive aus. Zwei Tage später wurde – allen Indizien nach durch Russland – der Kachowka-Damm gesprengt. Der mögliche Plan der ukrainischen Armee, die Russen im Süden zu binden, wurde durch die monströse Tat vorerst vereitelt.

Überflutung in Cherson
Das Ausmaß der Überflutung in Cherson wird vor allem aus der Luft sichtbar.
AP

Der ganz große Angriff, schreibt Hodges in einem Beitrag für den US-Thinktank Cepa, stehe aber noch aus. "Sobald zwei oder drei Brigaden mit jeweils 250 gepanzerten Fahrzeugen in einen engen Frontabschnitt zusammengezogen werden, können wir davon ausgehen, dass der Hauptangriff begonnen hat", schreibt Hodges. Insgesamt dürfte die Ukraine bis zu zwölf solcher Brigaden mit teils westlichen Kampf- und Schützenpanzern für ihre Offensive bereithalten. Dass nun im Internet Bilder von zerstörten deutschen Leopard-Panzern kursieren, hält Hodges für eine weitere Finte der Kiewer Strategen. Damit lenke man die Aufmerksamkeit auf ein Gebiet – um dann möglicherweise woanders zuzuschlagen.

Markus Reisner, Analyst an der Theresianischen Militärakademie, ist weniger optimistisch: "Die Situation ist aktuell für die Ukraine ernüchternd." Der erhoffte große Durchmarsch ist – jedenfalls derzeit – nicht in Sicht.

Freilich: Gerade einmal ein Drittel der eigens für die Offensive aufgestellten Kräfte dürfte aktuell im Einsatz sein. Besonders die politisch so mühsam erkämpften und nun schon zu Beginn der Offensive augenscheinlich verlorenen deutschen Leopard-Panzer seien für die Ukraine aber schwer zu ersetzen, sagt Reisner: "Vor allem das Minenräumgerät hätte man noch dringend gebraucht, um die russischen Linien zu überwinden." Auch mehrere US-Schützenpanzer der Marke Bradley dürften bereits verloren sein. Fest steht: Allzu häufig darf sich ein derartiges Szenario nicht wiederholen. "Wenn es sich um eine Finte handeln würde, hätte die Ukraine nicht ihr wertvollstes Gerät eingesetzt", glaubt Reisner, der einen schon seit langem bekannten Schwachpunkt als Grund für die Verluste auf ukrainischer Seite ausmacht: die fehlende Luftwaffe.

Das lange Warten auf die Offensive hat nämlich nicht nur die Erwartungen im Westen übergroß werden lassen, auch die russische Armee nutzte die Zeit, um ihre Linien noch einmal zu verstärken, vor allem mithilfe von exzessiven Verminungen. Die bisherigen Kämpfe finden Beobachtern zufolge lediglich vor der ersten von drei gestaffelten russischen Linien statt.

Zerstörte Leopard-Panzer bei Saporischschja.
Mehrere Leopard-Panzer wurden Russland zufolge bereits zerstört, Fachleute halten dies für realistisch.
EPA/Russisches Verteidigungsministerium

Russland ist weit besser vorbereitet

Auch was die eingesetzten Waffen betrifft, dürften Moskaus Strategen dazugelernt haben: Neben Kamikaze-Drohnen setzen sie neuerdings auch kleine, hochbewegliche Buggys ein, um die ukrainischen Panzer wie aus dem toten Winkel heraus anzugreifen. Weil die Ukraine Moskaus Armee zudem in der Luft nach wie vor kaum etwas entgegenzusetzen hat, können die russischen KA-52-Kampfhubschrauber die von Minenfeldern ausgebremsten ukrainischen Panzer aus sicherer Entfernung mit ihren Wichr-Raketen beschießen. "Der Weg, den die Ukraine gehen muss, ist in den vergangenen Tagen noch um einiges steiniger geworden", sagt Reisner. Und: "Der Abwehrerfolg der vergangenen Tage hat die Moral der Russen sicherlich gesteigert." Ein Durchmarsch wie im vergangenen Sommer in Charkiw, bei dem russische Stellungen panikartig aufgegeben wurden, ist angesichts der momentanen Lage schwer vorstellbar.

Die Zeit drängt

Eigentlich hätte die Ukraine beim Nato-Gipfel in Vilnius in einem Monat ihre westlichen Verbündeten mit der Macht des Faktischen konfrontieren wollen, um sich weitere Militärhilfen zu sichern. Kiews Erfolge auf dem Schlachtfeld waren bisher die beste Empfehlung dafür. "Genau das ist durch die Schwierigkeiten jetzt infrage gestellt", sagt Reisner. Niemand weiß freilich, wie sich die Situation bis dorthin noch entwickelt. Und: "Schwarze Schwäne hat es in der Kriegsgeschichte schließlich immer wieder gegeben." (Florian Niederndorfer, 12.6.2023)