Sebastian Borger aus London

In Schottland einst extrem populär, befand sich Ex-Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon am Sonntag gut sieben Stunden in Polizeigewahrsam.
AFP / Andy Buchanan

Schwerer Schlag für die Befürworter der schottischen Unabhängigkeit: Ihre Galionsfigur, Ex-Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon, zählt seit Sonntag in der peinlichen Finanzaffäre der Nationalpartei SNP offiziell zu den Beschuldigten. Prominente Abgeordnete streiten öffentlich darüber, ob die Mitgliedschaft der langjährigen Partei- und Regierungschefin suspendiert werden müsse. Dafür gebe es keine Veranlassung, glaubt Sturgeons Nachfolger Humza Yousaf: "Die Unschuldsvermutung gilt für alle."

Der Schatten eines Ermittlungsverfahrens lastet seit rund zwei Jahren über der Partei. Dabei geht es um die Summe von umgerechnet 778.000 Euro. Das Geld hatte die SNP zwischen 2017 und 2020 von Unterstützern als Kriegskasse für das angestrebte neuerliche Unabhängigkeitsreferendum zusammengebettelt, nachdem die Schotten sich für den Fortbestand der Union entschieden hatten.

Als die Parteibilanzen fürs Kalenderjahr 2019 wenig mehr als die Hälfte dieser Summe als Guthaben auswiesen, schlugen mehrere Bürgerinnen und Bürger Alarm. Die Polizei nahm sich der Sache an, auch die unabhängige Parteiaufsicht musste sich damit befassen. Im Mittelpunkt aller Ermittlungen steht der langjährige Generalsekretär Peter Murrell, Sturgeons Ehemann.

Verspätete Meldung

Unter anderem hatte dieser seiner Partei ein Darlehen gewährt, das erst mit erheblicher Verspätung gemeldet worden war. Die mittlerweile zurückgezahlte Summe von knapp 122.000 Euro habe zur Überwindung temporärer "Cashflow-Probleme" gedient.

Vieles spricht dafür, dass die Ermittlungen zu Jahresbeginn an Fahrt aufgenommen haben. Sturgeon kündigte im Februar ihren Rücktritt an. Wenige Wochen später nahm die Polizei Murrell sowie SNP-Schatzmeister Colin Beattie als Beschuldigte zeitweilig in Haft und durchsuchte die SNP-Parteizentrale und das Privathaus des Ehepaares Sturgeon/Murrell. Stets beteuerte die frühere Ministerpräsidentin, sie habe davon nichts gewusst.

Sie werde lang Aufgehobenes nachholen und "ein wenig mehr Privatsphäre" genießen, lautete der Wunsch der lange Zeit hochpopulären Politikerin in den Wochen nach ihrem Rücktritt. Damit war es am Sonntag allerdings wieder vorbei.

"Nach vorheriger Vereinbarung" meldete sich die Spitzenpolitikerin, begleitet von ihrem Anwalt, zum Verhör bei ihrer örtlichen Polizeistation. Wie nach schottischem Recht bei Beschuldigten üblich, wurde sie dafür vorläufig festgenommen, befand sich also offiziell in Polizeigewahrsam. Gut sieben Stunden später durfte die Beschuldigte wieder gehen, ohne dass Anklage gegen sie erhoben worden war.

Immenser Schaden

Der politische Schaden für die "zutiefst erschütterte" (Selbstbeschreibung) Nationalistin selbst, ihre Partei sowie für deren wichtigstes Anliegen sind freilich immens. Von einem "schweren Schlag" schrieb sogar die ausgesprochen nüchterne "Financial Times". Das Streben nach Unabhängigkeit sei "für eine Generation erledigt", freute sich der Glasgower "Daily Record".

Yousaf hatte das Nachfolgerennen im März mit hauchdünnem Vorsprung ausdrücklich als "Kontinuitätskandidat" gewonnen. Eine glaubwürdige Distanzierung von Sturgeon und den merkwürdigen SNP-Geschäften wird für ihn also schwierig. Hingegen gehört seine damalige Konkurrentin Ash Regan zu jenen, die ihre Ex-Chefin mindestens zeitweilig aus der Partei ausschließen wollen. Mit anderen Übeltätern sei Sturgeon schließlich ähnlich rigoros verfahren.

Der konservative Oppositionsführer Douglas Ross verhöhnte den Regierungschef als "schwach". Dem regionalen Labour-Chef Anas Sarwar zufolge steckt die SNP "tief im Dreck". Für die Arbeiterpartei könnte es laut Umfragen zu einer Renaissance kommen. Statt wie bisher ein einziges von 59 Unterhausmandaten sagen die Demoskopen Labour derzeit etwa 20 Wahlkreissiege voraus. Das würde dem Londoner Labour-Chef Keir Starmer den Weg in die Downing Street ebnen. (Sebastian Borger aus London, 12.6.2023)