Die überraschend mächtigen Demonstrationen, mit geschätzten 300.000 bis zu einer halben Million Menschen in Warschau gegen die seit acht Jahren regierende nationalkonservative PiS-Regierung haben vor einigen Tagen internationale Beachtung gefunden. Bei einem kurzen Besuch in Budapest am Rande einer Buchpräsentation spürte ich, mit welchem Neid liberale und systemkritische Ungarn nach Polen blicken und die Stärke der polnischen Zivilgesellschaft bewundern. Nicht zum ersten Mal in der Geschichte der traditionell befreundeten Nationen sind die Polen die Wegweiser. So war es 1956, 1980 und 1989.

Zugleich lassen die Berichte über die bisher größte Demonstration gegen die Regierung die seit dem russischen Überfall auf die Ukraine so offensichtlich paradoxe Lage Polens erkennen. Nicht nur bei der Aufnahme von über anderthalb Millionen Flüchtlingen, pro Kopf die höchste Zahl in der EU, und bei ihrer guten Integration, sondern auch bei militärischer und politischer Unterstützung ist Polen, natürlich auch in eigenem Interesse, der Schrittmacher bei der Ukraine-Hilfe.

PiS-Chef Jarosław Kaczyński
Will den Machterhalt seiner Partei um jeden Preis: PiS-Chef Jarosław Kaczyński
AP/Czarek Sokolowksi

Das Land leistet Großes für die Verteidigung der gesamten freien Welt. Die Kehrseite der Medaille ist der Angriff auf die Freiheit im eigenen Land. Wie es der berühmte Freiheitskämpfer gegen den Kommunismus und Chefredakteur der Gazeta Wyborcza, der 1989 gegründeten ersten unabhängigen Tageszeitung, Adam Michnik, in einem Interview sagte: "Es ist ein Paradox, dass diese polnische Regierung den Ukrainern hilft, sich gegen Putin zu verteidigen. Gleichzeitig implementiert sie in Polen putinistische Lösungen."(Falter, 19/23).

Es geht dabei um den schrittweisen Abbau des Rechtsstaats und die Knebelung der Medien, vor allem des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Seit Jahren hat die EU-Kommission und das EU-Parlament Polen wegen der Nachahmung des "Orbán-Modells" gewarnt und der Europäische Gerichtshof das Land wegen der Untergrabung der Unabhängigkeit der Justiz mehrmals verurteilt beziehungsweise bestraft.

Trotz der Warnungen aus Brüssel und nun auch aus Washington hat die Arroganz der Machthaber, wohl im Blick auf die Parlamentswahlen im Herbst, einen neuen Höhepunkt erreicht. Die Regierung will blitzschnell eine Art Sondertribunal mit sehr weitgehenden Kompetenzen aufstellen, um den russischen Einfluss auf die polnische Politik in den letzten 15 Jahren zu untersuchen. Die Kommission kann die Betroffenen von öffentlichen Ämtern ausschließen. Die Verhandlungen sollen vor den Wahlen im Regierungsfernsehen ausgestrahlt werden und vor allem den langjährigen Ex-Ministerpräsidenten und Ex-Vorsitzenden des EU-Rates, Donald Tusk, der jetzt die größte Oppositionspartei, die Bürgerplattform, anführt, diskreditieren.

Der "starke Mann" an der PiS-Spitze, Jarosław Kaczyński, will den Machterhalt seiner Partei durch den Preis der Demokratie sichern. Der PiS-treue Staatspräsident Andrzej Duda macht trotz internationaler Proteste mit. Der französische Staatschef Emmanuel Macron und der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz berieten mit ihm Montagabend bei einem Arbeitsessen in Paris über die Hilfe für die Ukraine. Und schwiegen über die bedrohte Freiheit in Polen selbst. (Paul Lendvai, 12.6.2023)