Schwärmerinnen und Romantiker neigen dazu, den Bregenzerwald zu verklären. Und es stimmt ja auch! Über die Niederen bei Andelsbuch schweben Paragleiter, die Bregenzer Ache rauscht nach den Regenfällen der letzten Wochen wieder glasklar, Kühe grasen auf sattgrünen Wiesen, aus Handwerksbetrieben klopft, hämmert und sägt es, die Häuser fügen sich gnadenlos schön in die Gegend ein. Am Himmel zieht ein Milan seine Kreise. Als im Hinblick auf Bautätigkeit wienerwaldgeschädigte und kleingartentraumatisierte Vor-Ort-Reporterin kann ich nicht anders: Ich bin hingerissen.

Nichtsdestotrotz ist das Bauen in Verruf geraten. Zersiedelung, Bodenverbrauch, illegale Zweitwohnsitze, potenzieller Leerstand in Tourismusgebieten sind Probleme vieler Regionen in Österreich. Was bedeuten diese Herausforderungen für einen Landstrich, in dem das "Schaffa, schaffa, Hüsle baua" im kulturellen Bewusstsein fest verankert ist? Was heißt es, wenn der Spielraum fürs vielgeliebte Basteln und Bauen enger wird, weil es erstens die Umwelt zerstört und zweitens sowieso zu teuer ist? Wie geht der Bregenzerwald mit den daraus entstehenden Zukunftsaufgaben um? Gibt es in diesem sich seiner Innovationskraft rühmenden Landstrich Konzepte und Ideen, wie Bauen und Wohnen in Zukunft ausschauen könnte? Ein Roadtrip durch eine als ideal beschriebenen Lebenswelt zwischen Vorder-, Mittel- und Hinterwald - von Dornbirn bis Schröcken. Es geht los.

Prolog

Dornbirn. Mein erster Weg führt mich ins Vorarlberger Architekturinstitut, wovon mich zunächst einmal begeistert, dass es so etwas überhaupt gibt. Bauen und Wohnen genießen im Ländle seit jeher einen hohen Stellenwert. "Wer von Vorarlberger Architektur spricht, meint eigentlich den Bregenzerwald", sagt Verena Konrad, die Geschäftsführerin des Instituts.

Verena Konrad, Direktorin des Vorarlberger Architektur Instituts.
Verena Konrad, Direktorin des Vorarlberger Architekturinstituts.
Doris Priesching

Tatsächlich sind die Bregenzerwälder Weltmeister im Bauen. Bei internationalen Wettbewerben räumen sie reihenweise Architektur- und Designpreise ab. Weltmeister ist die Region aber auch im Ver-Bauen: 49 Prozent beträgt der Versiegelungsgrad im Bregenzerwald und ist damit höher als im gesamten Österreich. Die Region ist mit 550 Quadratkilometern die größte der elf Talschaften Vorarlbergs, aber nur acht Prozent der Bevölkerung des Landes wohnen hier. In praktisch jedem Ort, den ich besichtige, steht ein Baukran. Mindestens. Ich gebe zu, das dämpft meine Euphorie.

Das Bild zeigt einen Baukran und einen Garten mit Hühnern
Fast in jedem Ort steht ein Baukran.
Doris Priesching

Aber woher kommt diese Lust am Handwerklichen überhaupt? "Die bauliche Kompetenz des Bregenzerwaldes hat ihren Ursprung in der Arbeitsmigration des 17. Jahrhunderts", erklärt Konrad. "Damals gingen die Handwerker aus dem Tal nach Süddeutschland, in die Schweiz und ins heutige Elsass, wo große barocke Bauwerke entstanden. Von dort haben sie viel Wissen mitgebracht, das sie zu Hause verwerteten."

Das abgeschlossene Tal und die knappen Ressourcen hatten zur Folge, dass sich über Jahrhunderte eine eigenständige Baukultur entwickeln konnte und aus der heraus vor rund dreißig Jahren rund um sogenannte Baukünstler *weil in heftigem Konflikt mit dem "Establishment" von Bauwirtschaft und Kammer der Titel Architekt verweigert wurde - wie Dietmar Eberle, Roland Gnaiger, Helmut Dietrich, Hermann Kaufmann und Wolfgang Ritsch eine neue Schule der modernen Baukunst entstand.

Das neu gestaltete Barockbaumuseum in Rehmen.
Das neu gestaltete Barockbaumuseum in Rehmen.
Doris Prieshcing

Das Aufkommen des Massentourismus in den 1970er-Jahren habe der Bregenzerwald komplett verschlafen. "Die Menschen waren arm, sie hätten diesen Tourismus vielleicht gerne gehabt, heute ist man froh darum", sagt Konrad. Heute profitiere die Region von einem "sehr aufmerksamen Bau- und Tourismusverständnis". Das schaue ich mir an.

Vorderwald

Hittisau. "Ich bin lieber ein Meister als eine Marke", sagt Markus Faißt. Seine Holzwerkstatt liegt bezeichnenderweise in Nussbaum, an der Einfahrt zu Hittisau. Faißt wird von Menschen, die ihn kennen, "Holzphilosoph" genannt. Er verarbeitet Holz nach baubiologischen und ökologischen Kriterien. "Ein guter Handwerker hat eine Verantwortung für die Welt, für die nächste Generation, für das große Ganze, er hat eine gesunde Neugierde und pflegt selbst eine Kultur des Alltags. Damit ist mir nicht egal, was ich produziere", sagt Faißt.

Die Bäume, die er verarbeitet, werden im Winter geschlagen – "frühestens ab der zweitkürzesten Sonnenstandszeit kurz vor Neumond, Sternzeichen Waage". Danach kommen die Stämme ins Sägewerk zum Schnitt und in Markus Faißts beeindruckendes Holzlager, wo ein aufwendiger Luftreifungsprozess folgt. Dieser kann mehrere Jahre dauern, ehe die weitere Verarbeitung in der Holzwerkstatt beginnt.

Markus Faißts Holzlager
Markus Faißts Holzlager.
Doris Priesching

Ein Prozess, der seinen Preis hat und den Faißt angesichts der Teuerung nicht schönreden kann und will: "Die Preissteigerungsdynamik der letzten zwei Jahre war einfach horrend, und wir konnten vorher schon nicht billig sein." Nachhaltigkeit kommt so ins Spiel: "Unsere Möbel schafft man sich fürs Leben an, die vererbt man sogar. Wenn ich sie für fünf bis sieben Jahre nutze, dann sind diese Möbel teuer, für längere Zeit schon gar nicht mehr."

Persönlichkeiten wie Faißt trifft man im Bregenzerwald an jeder Ecke: Baukünstler, Architekten, Handwerkerinnen, Designerinnen – mehrheitlich sind es Männer. Mit der Kinderbetreuung hat es das konservative Ländle nicht so.

Markus Faißt, Meister des Holzbaus in Hittisau.
Markus Faißt, Meister des Holzbaus in Hittisau.
Doris Priesching

Fragt man nach der Auftragslage, erhalte ich fast überall dieselbe Antwort: Die nächsten drei, vier Monate schaut es gut aus, danach droht Leere. Meister Faißt kann sich im Moment nicht beklagen: Er hat gut zu tun. 

Mittelwald

Egg. Im Grunde genommen ist es ganz einfach: Menschen aus dem Bregenzerwald heißen entweder Simma, Moosbrugger, Meusburger, Schwärzler oder Kaufmann. Jeder – wirklich jeder und jede – hat ein E-Bike, das Trampolin für den Nachwuchs gehört gleichfalls zur Grundausstattung, steht aber durchwegs unbenutzt in den Gärten, was verständlich ist, weil ja alle Kinder E-Bike fahren. Man ist per du, zur Begrüßung sagen sie "Sawas", zur Verabschiedung "Tschau", sie sagen "woasch", wenn sie "weißt du" meinen, und nicht "wescht" wie meine Mama aus dem Montafon. Die Dialekte sind vielfältig wie die Landschaft, hier sagen sie zum Spielen in der Sandkiste "sandla", drei Kilometer weiter heißt es "sondla". Einig ist man sich im Grundprinzip: Wenn der Vorarlberger, die Vorarlbergerin etwas macht, macht er/sie es "ghörig". Der Spruch vom "Schaffa, schaffa, Hüsle baua" hat ganz bestimmt seinen Ursprung im Bregenzerwald.

"Ghörig" ist zum Beispiel die bauliche Regulierung. Vorgeschrieben sind klare, einfache Längsbaukörper mit Fassaden aus naturbelassenem Holz, darauf sitzt ein Satteldach. Bauverfahren werden in den Gemeinden mit Gestaltungsbeiräten abgestimmt, die aus jeweils anderen Orten kommen. "Schlussendlich ist es eine Einzelbeurteilung des geplanten Projekts", sagt Peter Heiß von der Regio Bregenzerwald, dem Entwicklungs- und Planungsbüro mit Sitz in Egg. Und nicht die eines Bürgermeisters, der oberster Bauherr und oft gleichzeitig selber Baumeister ist, wie anderswo. 450 Handwerksbetriebe zählt die Region. Bei einer Fläche von 550 Quadratkilometern ist das fast ein Betrieb pro Quadratkilometer. 

Andelsbuch. Der Ort ist handwerkliches und mit dem von Peter Zumthor gestalteten Werkraum auch kreatives und intellektuelles Zentrum des Bregenzerwaldes. Einer, der den Mythos Bregenzerwald hinterfragt, ist Martin Bereuter, Obmann des Werkraums: "Ich weiß gar nicht, was ich davon halten soll, wenn die Menschen alle kommen und sagen, dass es bei uns so schön ist", sagt Bereuter. "Die Perspektive, bei uns sei alles eitel Wonne, ist speziell beim Thema Bodenversiegelung absurd. Bei uns ist das Dilemma halt ein bisschen schöner." Die Idealisierung des Bregenzerwaldes findet Bereuter "nervig". 

Zumindest das Investorenproblem hat hier im Mittelwald im Vergleich zu anderen Regionen Österreichs offenbar noch nicht so durchgeschlagen und wird es nach Ansicht von Werkraum-Geschäftsführer Cornel Hess auch nie: "Die Frage ist gar nicht so sehr, ob man es bezahlen kann, es geht darum, dass man nichts kriegt. Man gibt hier Grund und Boden gar nicht her."

Martin Bereuter (li.) und Cornel Hess vom Werkraum Bregenz.
Martin Bereuter (li.) und Cornel Hess vom Werkraum Bregenz.
Doris Priesching

Hinterwald

Bezau. Gebaut wird tatsächlich – und das nicht zu knapp. Für alle Gemeinden im Bregenzerwald sind derzeit 765 Bauvorhaben veranschlagt. Allein in Bezau, eine Gemeinde weiter, zählt die Regio Bregenzerwald 53 gültige Baubescheide. Bauen habe sich aber verändert, sagt Markus Innauer vom Architektenduo Innauer/Matt – und das trifft ein bisschen ins Mark der baufreudigen Bregenzerwälder.

Auf dem Hauptplatz von Bezau sind Bagger am Planieren. Wo das Gemeindehaus war, entstehen Schule und Kindergarten. "Das war ein Prozess", erinnert sich Sven Matt vom Architekturbüro Innauer/Matt. "Nicht alle waren damit einverstanden, dass diese Einrichtungen mitten ins Zentrum kommen." Ein öffentliches Gebäude gehöre aber in den Ort, weil es "eine öffentliche Funktion hat und den öffentlichen Raum mitprägt. Der öffentliche Raum verdichtet sich und wird um ein Angebot reicher", sagt Matt. "Vorbild öffentlicher Bau", nennt das Architekturdirektorin Verena Konrad. "Die öffentliche Hand als Bauherr muss im Qualitätsanspruch Dinge vorleben, damit man das von den Privaten auch ein Stück weit verlangen kann", sagt Konrad, und es schwingt ein wenig Stolz mit: "In der Mischnutzung sind wir Meister." Geplante Fertigstellung: Herbst 2025.

Bauen habe sich verändert, sagt Markus Innauer: "Das Einfamilienhaus als Bautyp ist tot." Teuerung und Grundstückspreise führen dazu, dass mit Kosten von rund 1,2 Millionen Euro für ein – zweifellos schickes – Wohnhaus zu rechnen ist: "Wer soll sich das leisten?" Ein privater Häuslbauer habe heute zudem "eine gewisse Verantwortung": Es gehe nicht darum, "seine eigenen Bedürfnisse zu erfüllen, sondern dem Ort etwas zurückzugeben". Das könnte zum Beispiel die leeren alten Privathäuser betreffen, von denen es viele gibt und zu denen es nicht wirklich einen Plan zu geben scheint. Die Lücke in den Auftragsbüchern zwinge zum Umdenken: "Der Stopp ist ein Vorteil, weil er eine Veränderung erzwingt. Man ist offener für andere Ideen", sagt Matt. Stichwort: verdichtetes Bauen. 

Architektenduo in Bezau: Sven Matt und Markus Innauer.
Architektenduo in Bezau: Sven Matt und Markus Innauer.
Doris Priesching

Zum Beispiel im Reihenhaus. Innauers und Matts Entwürfe orientieren sich etwa an traditionellen Vorsässsiedlungen – Häusern, die als Gruppe zusammenstehen, mit Platz für Gemeinschaft, einer unterirdischen Parkgarage, deren Aufgang auf einen öffentlichen Platz führt. Oberirdisch soll der Raum von Autos befreit sein. Das Einfamilienhaus gilt als Auslaufmodell – auch wegen der Ressourcen. Architekten und Landschaftsdesignerinnen sehen darin Möglichkeiten für lebenswerten verdichteten Wohnbau als privates Bedürfnis und nicht als Investorenprojekt. Not macht erfinderisch. Bei Innauer/Matt wird zu dem Thema gerade viel überlegt.

Verlassenes Alpinresort in Schröcken.
Verlassenes Alpinresort in Schröcken.
Doris Priesching

Schröcken. Ich stehe vor Bauklötzen, riesige Holzhütten bauen sich vor mir auf. Trotz des verlängerten Wochenendes ist kein Mensch zu sehen. Investorenimmobilien wie jene direkt an der Straße werde es keine mehr geben, versichert Bürgermeister Stephan Schwarzmann. Einzig ein "großes Hotelprojekt im Dorfzentrum" werde noch realisiert – "irgendwann", laut Schwarzmann. "Das ist so umstritten, ich kann mir nicht vorstellen, dass das irgendwo noch genehmigt werden würde", sagt Tourismusdirektorin Cornelia Kriegner. Die Gemeinden seien unisono bestrebt, möglichst wenig zuzulassen. "Man will keine kalten Betten, keine illegale Zweitwohnsitze." Ein Chaletdorf nach dem anderen? "Das wird nicht passieren", sagt Kriegner.

So sicher sind sich die Menschen hier aber nicht. Ich bekomme viel Kritik an der Entwicklung im Hinterwald zu hören. Man wolle ein zweites Lech werden, heißt es. Durch die neue Verbindung der Skigebiete zwischen Lech und Warth ist die vom Tourismus abhängige Region in Aufbruchsstimmung. Die Zahl der Gästebetten hat sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt und liegt bei 2.000. Der ganze Wald zählt 17.000.  

Epilog

Von Schröcken geht es nach Warth, dem letzten Ort im Wald, und schließlich nach Lech. Spätestens hier eröffnet sich mir eine vertraute Welt. Zersiedelt, verbaut, verlassene Ortszentren. Kann der Bregenzerwald sein zumindest vordergründig bestehendes Idyll bewahren? Wird die Talschaft mehr Hittisau oder mehr Schröcken? Oder irgendetwas dazwischen? Viel davon wird sich in den nächsten Jahren entscheiden. Ich fahre über den Arlbergpass zurück nach Wien. Am Himmel kreist ein Milan. (Doris Priesching, 23.6.2023)

*Erratum: Nicht des fehlenden Architekturstudiums wegen nannten sich die Baukünstler Baukünstler.