Seit Beginn der großflächigen Invasion durch Russland im Februar 2022 warnen die Ukraine und ihre westlichen Partner vor der Gefahr einer großen, kriegsverändernden Aktion unter falscher Flagge. Was bedeuten würde, dass die Russen sich selbst massiven Schaden zufügen und es den Ukrainern in die Schuhe schieben, nur um den Konflikt daraufhin noch weiter eskalieren zu lassen.

Auf Warnungen folgten konkrete Anschuldigungen: bei der Drohne, die in den Kreml stürzte, bei den Nord-Stream-Sprengungen, bei den Grenzvorfällen in Belgorod. Einzig und allein: Es waren, wie sich später herausstellte, immer wieder die Ukrainer selbst, also Kiew unterstehende Geheimdienste  oder mit den Ukrainern sympathisierende Gruppen, oder es stehen zumindest proukrainische Interessen im Verdacht, wie das etwa bei den Nord-Stream-Attacken nach einiger forensischer Arbeit zusehends wahrscheinlicher wird. 

Kurz gesagt: Die große, den Krieg beeinflussende False-Flag-Aktion Russlands hat in diesem Konflikt bisher (noch) nicht stattgefunden. Zumindest vorher gab es jedoch Versuche: So ergaben Recherchen der Open-Source-Spezialisten von Bellingcat, dass ein Vorfall in der von Russland illegal besetzten Region Donezk in der Ukraine vom 22. Februar 2022, also zwei Tage vor der offiziellen Invasion, offensichtlich inszeniert war. Bei einem Attentat mit einem improvisierten Sprengkörper, das einem prorussischen Militärkommandanten gelten sollte, sollen drei Menschen gestorben sein – vermeintlich verübt von den Ukrainern.

Jedoch hatte das Auto keine Nummerntafeln, es bewegte sich nach der Explosion nicht mehr von der Stelle, obwohl das Attentat während der Fahrt passiert sein soll, und noch dazu waren die vermeintlich tödlichen Verletzungen keineswegs konsistent mit typischen Folgen von Bombenangriffen. Ein Körper soll gar Verletzungen gehabt haben, die klassisch für Untersuchungen bei einer Autopsie sind. Der Verdacht liegt also nahe, dass die Russen drei Leichen ins Auto gesetzt und dieses anschließend in die Luft gejagt hatten – auch um öffentlich antiukrainische Stimmung zu schüren und potenziell den Weg für eine Invasion zu ebnen, wie später klar wurde. Die Aktion erhielt aber bei weitem nicht die gewünschte Aufmerksamkeit. 

Besonders bizarr war, als die Russen behaupteten, der Inlandsgeheimdienst FSB habe einen Anschlag auf den berühmten TV-Moderator und vermutlich schlimmsten Kriegstreiber Wladimir Solowjow unterbunden. Zu den Beweisen zählten laut der Veröffentlichung ein improvisierter Sprengkörper, acht Molotowcocktails, Pistolen, Granaten und Munition. So weit, so unauffällig für einen Attentäter. Die Geheimdienste fanden angeblich aber auch gefälschte ukrainische Pässe, Drogen, nationalistische Literatur und vor allem drei Spiele der beliebten Computerspielreihe "Sims". Belllingcat-Gründer Elliot Higgins sagte daraufhin, er "glaube ernsthaft, dass es sich dabei um einen dummen FSB-Agenten handelte, dem gesagt wurde, er solle drei SIM-Karten besorgen". Aus drei SIM-Karten wurden dann drei "Sims"-Spiele. Ein plumper Versuch einer Aktion unter falscher Flagge?  

Ausgebliebene Eskalation

Dass es im Krieg selbst noch nicht zur ganz großen False-Flag-Aktion gekommen ist, lässt sich auch an einem anderen Indiz, nämlich der Ur-Intention der Aktion unter falscher Flagge, ablesen: Auf die jeweiligen Aktionen, bei denen zahlreiche Journalistinnen und Journalisten anfangs ob ihrer journalistischen Sorgfaltspflicht zumindest auf die Möglichkeit eines Vorgehens unter falscher Flagge verwiesen, folgte nie die große russische Eskalation.

Ja, Russlands Präsident Wladimir Putin ließ in Reaktion auf manchen Vorfall bestimmte ukrainische Städte immer wieder mit Raketen und Drohnen beschießen. Der Machthaber im Kreml scheute vor dem Beschuss der Zivilbevölkerung aber auch schon davor nie zurück, brauchte anscheinend keinen Vorwand. Für seine Invasion erfand er zwar fadenscheinige Argumente, fabulierte etwas von einer Gefahr für den russischen Staat. Es reichte ihm aber das angebliche Drohszenario für einen Angriff auf einen souveränen Staat. Den großen Angriff unter falscher Flagge ließ er – trotz der Autobombenaktion – nicht inszenieren. Vielleicht war ihm aber auch nur das mediale Echo zu gering.

Rauch über dem Kreml, nachdem die russische Luftabwehr in letzter Sekunde eine ukrainische Drohne abgeschossen hat.
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Dabei ist die ukrainische und westliche Angst grundsätzlich keineswegs unbegründet: Moskau hat auch 1939 schon einmal einen Vorfall inszeniert, um den Nichtangriffspakt mit Finnland zu brechen. 1994 gab man das spät, aber doch sogar zu. Berühmte Angriffe unter falscher Flagge waren auch die deutsche Invasion Polens 1939, nachdem zunächst Deutsche als Polen verkleidet einen Rundfunksender in Gleiwitz attackierten hatten und damit der Überfall auf Polen gerechtfertigt wurde. Oder die Eskalation des Vietnamkriegs durch die USA. Als Vorwand galt 1964 der Tonkin-Vorfall, ein vermeintlicher Beschuss US-amerikanischer Schiffe. Apropos Schiffe: Piraten und ihre Annäherungen an Handelsboote mit vermeintlich freundlicher Absicht, weil gleicher Flagge, waren auch namensgebend für die Angriffe unter falscher Flagge.

Der russische Weg: mit fremder oder ohne Flagge

Dabei ist es keineswegs ausgeschlossen, dass Russland wieder einen Angriff unter falscher Flagge durchführt, um tatsächlich eine weitere Eskalationsstufe zu erreichen, etwa den Einsatz einer taktischen Atomwaffe. Um das nukleare Tabu, das international seit dem Abwurf von US-Nuklearsprengköpfen auf Japan informell gilt, zu brechen, könnte es einen (fingierten) Vorwand brauchen – für konventionelle Angriffe aller anderer Art wohl leider nicht, wie Putin regelmäßig beweist.

Nicht alles, was die Russen im Verdeckten oder in Graubereichen unternehmen, erfüllt per se aber das Kriterium eines Angriffs unter falscher Flagge. Denn Russland kennt auch andere Wege: Wenn etwa russische Hacker so tun, als wären sie eigentlich aus dem Iran oder Anhänger des "Islamischen Staates", dann treten sie zwar auch unter der falschen, weil fremden Nationalflagge auf – wollen in dem Fall aber eher nicht den Nährboden für eine eigene Reaktion bereiten, sondern einfach anderen schaden und nicht dafür verantwortlich sein.

Auch wenn russische Truppen ohne Hoheitsabzeichen, also ohne Flagge, in fremden Staaten einmarschieren, wie das etwa in Georgien 2008 oder auf der Krim 2014 der Fall war, ist das eigentlich kein Angriff unter falscher Flagge. Schließlich griffen diese "kleinen grünen Männchen" ja keine Russen an, sondern hinderten viel eher die ukrainischen Streitkräfte an der De-facto-Besetzung der Halbinsel, indem sie Kasernen, Polizeistationen, Verwaltungsgebäude oder den internationalen Flughafen besetzten und blockierten.

Wenige Wochen später fielen die Männer in russischen Infanterieuniformen, ausgestattet mit russischen Waffen, auch in der Ostukraine ein. Gab Moskau zunächst noch an, dass es sich um "Selbstverteidigungskräfte" handle, die sich ihre Uniformen wohl in einem Militärshop gekauft hätten, gaben später nicht nur Offiziere zu, dass es sich um russische Soldaten handelte. Viele von ihnen wurden auch durch Fotos und Open Source Intelligence identifiziert. 2016 errichtete man ihnen auf der annektierten Krim sogar ein Denkmal. Letzten Endes werden die Urheber aber ohnehin fast immer enttarnt. Unter welcher Flagge auch immer sie operieren. (Fabian Sommavilla, 15.6.2023)