Athen Griechenland Migranten Bootsunglück
Über 100 Personen wurden bisher gerettet.
EPA/BOUGIOTIS EVANGELOS

Athen – Die 104 überlebenden Migranten eines Bootsunglücks vor Griechenland sollen am Donnerstag und Freitag in ein Flüchtlingslager nahe Athen gebracht werden. Zudem ist die Überführung der Toten nach Athen angelaufen, wie der Sender ERT berichtete. Dort sollen DNA-Proben genommen werden, um die Menschen zu identifizieren. Insgesamt handelt es sich um 78 Todesopfer. Die Küstenwache korrigierte am Donnerstag ihre Angaben vom Vortag, wonach es zwischenzeitlich 79 Tote waren. 

Die tatsächliche Zahl der Todesopfer geben die griechischen Behörden mittlerweile mit mehr als 500 an. Sie verweisen aber auch darauf, dass es wohl nie Gewissheit geben wird. Die Zahlen basieren auf Angaben der Überlebenden sowie Schätzungen der Küstenwache, wie viele Menschen auf dem Fischkutter eingepfercht waren.

Keine weiteren Überlebenden gefunden

Obwohl die Sucharbeiten die Nacht über andauerten und auch am Donnerstag weiterliefen, wurden keine weiteren Überlebenden oder Leichen gefunden. Es wird davon ausgegangen, dass die Menschen unter Deck sich nicht retten konnten, als das Schiff sank. Die Hoffnung weitere Überlebende zu finden, gibt es nicht mehr.

"An Deck des Schiffes waren die Menschen zusammengepfercht, das Gleiche vermuten wir auch für den Innenraum", sagte ein Sprecher der Küstenwache dem Sender ERT. "Die Zahl ist in jedem Fall sehr hoch." Die griechische Präsidentin Ekaterini Sakellaropoulou, die am Vormittag in die Hafenstadt Kalamata zu den Rettungsarbeiten gereist war, sagte: "Wir werden wohl nie erfahren, wie viele Menschen wirklich an Bord waren."

VIDEO: Griechenland: Möglicherweise hunderte Tote bei Schiffsunglück
AFP

Die meisten Passagiere konnten sich nicht retten

Griechische Medien veröffentlichten am Mittwochabend erstmals Bilder der griechischen Küstenwache von dem mit Migranten überfüllten Unglücksboot. Sie zeigen, dass sich allein schon an Deck des verrosteten Fischkutters bis zu 200 Menschen drängten. Auszumachen sind ein weiteres Zwischendeck und der Rumpf. Griechische Medien berichteten, bei den 104 geretteten Menschen handle es sich ausschließlich um Männer. Die übrigen Passagiere, darunter nach Angaben der Überlebenden auch schwangere Frauen und viele Kinder, sollen sich unter Deck aufgehalten und beim schnellen Sinken des Bootes keine Chance gehabt haben, sich nach draußen zu retten.

Die meisten Passagiere konnten offensichtlich nicht rechtzeitig das rund 30 Meter lange und verrostete Boot verlassen, als es Mittwochfrüh rund 50 Seemeilen (rund 92 Kilometer) vor der südwestlichen Küste Griechenlands kenterte und unterging. Der Kapitän soll laut Augenzeugenberichten mit einem Kleinboot geflüchtet sein. Die Überlebenden wurden in Zelten an der Hafenstadt untergebracht.

Behörden vermuten Panik als Ursache

Nach Angaben der Geretteten war das Boot in der libyschen Stadt Tobruk in See gestochen. Unter den Passagieren seien Menschen aus Syrien, Pakistan, Afghanistan und Ägypten gewesen. Schon am Dienstag hatten italienische Behörden die griechischen Nachbarn über ein vollbesetztes Fischerboot im griechischen Such- und Rettungsbereich informiert. Die Küstenwache und vorbeifahrende Frachter hätten den Passagieren per Funk wiederholt Hilfe angeboten. Diese hätten jedoch abgelehnt, sagte ein Sprecher der griechischen Küstenwache. Stattdessen hätten sie angegeben, nach Italien weiterreisen zu wollen. Weil sich das Boot in internationalen Gewässern befand, konnte die griechische Küstenwache erst eingreifen, als es in der Nacht auf Mittwoch in Seenot geriet und kenterte.

Nur war die griechische Küstenwache in der Vergangenheit auch für illegale Pushbacks verantwortlich, bei denen Geflüchtete, die sich bereits auf griechischen Inseln befanden, wieder aufs Meer gebracht und auf Rettungsinseln ausgesetzt werden. Seit die konservative Regierung unter Premier Kyriakos Mitsotakis vor vier Jahren an die Macht kam, wurde die Politik gegenüber Flüchtenden verschärft.

Als Ursache des aktuellen Unglücks vermuten die Behörden jedenfalls eine Panik an Bord. Die Küstenwache habe das Boot nach der Kontaktaufnahme weiterhin beobachtet und plötzlich abrupte Bewegungen wahrgenommen, sagte der Sprecher. Andere Berichte melden eine Überladung durch die zahlreichen Passagiere des Schiffs. Dann sei der Kutter gekentert und schnell gesunken. Am Wetter sei es nicht gelegen, das sei verhältnismäßig ruhig gewesen, hieß es.

Krisenzentrum in Kalamata

Die Unglücksstelle liegt nahe der tiefsten Stelle im Mittelmeer, dem sogenannten Calypsotief, das rund fünf Kilometer bis zum Meeresboden reicht. Eine Bergung des Wracks dürfte damit so gut wie ausgeschlossen sein. Wegen des Unglücks wurde in Griechenland eine dreitägige Staatstrauer ausgerufen. Die Hafenstadt Kalamata auf der Halbinsel Peloponnes wurde zum Krisenzentrum: Ins dortige Krankenhaus und in andere Unterkünfte wurden die Überlebenden gebracht. Manche mussten wegen Unterkühlung behandelt werden. 

Ebenfalls Mittwochfrüh war südlich von Kreta ein mit Migranten besetztes Segelboot in Seenot geraten. Auch dort seien dutzende Menschen gerettet worden, wie die Behörden mitteilten. Der Wahlkampf in Griechenland wurde aktuell ausgesetzt. In Griechenland finden am 25. Juni neuerlich Wahlen statt – diesmal mit einem anderen Wahlgesetz. Der Wahlsieger der Parlamentswahlen vom 21. Mai, die Nea Dimokratia von Mitsotakis, will damit erreichen, dass sie ohne Koalitionspartner regieren kann.

Karas fordert legale Fluchtwege

Angesichts des tragischen Bootsunglücks forderte der Erste Vizepräsident des Europaparlaments, Othmar Karas, am Donnerstag legale Fluchtwege und ein Ende illegaler Pushbacks. "Die Tragödie vor der griechischen Küste ist unfassbar. Wenn die Angst vor Pushbacks mitverantwortlich war, ist das der letzte Beweis, dass mit diesem illegalen Vorgehen endlich Schluss sein muss", so Karas im Kurznachrichtendienst Twitter. Eine gemeinsame EU-Asyl- und Migrationspolitik sei seit Jahren überfällig, sichere EU-Außengrenzen und sichere Fluchtwege seien dabei kein Widerspruch. "Das Sterben im Mittelmeer muss ein Ende haben."

Mit scharfer Kritik an der europäischen Flüchtlingspolitik reagierte auch Caritas-Wien-Direktor Klaus Schwertner. "Europa versagt seit Jahren, wenn es darum geht, Menschen auf der Flucht zu schützen. Seit 2014 sind bereits mehr als 20.000 Geflüchtete auf der Flucht im Mittelmeer ertrunken", sagte Schwertner gegenüber Kathpress. Es sei leider zu befürchten, dass auch der jüngste Vorstoß der EU-Innenminister die Situation nicht verbessern werde, so Schwertner.

Auch der evangelisch-lutherische Bischof Michael Chalupka zeigte sich entsetzt und forderte einmal mehr sichere legale Fluchtwege und humanitäre Korridore. Es handle sich bei dem Unglück um "keine unausweichliche Naturkatastrophe, sondern eine Folge europäischer Politik", kritisierte er.

Immer wieder Schiffsunglücke

Seit 2014 sind nach UN-Angaben mehr als 20.000 Migranten auf dem Mittelmeer gestorben. Erst Ende Februar 2023 kam es in Italien vor der Küste Kalabriens zu einem Bootsunglück mit mindestens 90 Toten.

Griechenland hat die Kontrollen seiner Gewässer in den vergangenen Jahren bereits massiv verschärft, um illegale Migration stoppen. Deshalb wählen Schlepper und Migranten zunehmend gefährliche, lange Routen von der Türkei und Staaten des Nahen Ostens südlich an Griechenland vorbei direkt nach Italien, um in die EU zu gelangen.

Bei der wohl bisher schlimmsten Katastrophe auf dem Mittelmeer verloren im April 2015 mehr als 1.000 Menschen vor der libyschen Küste ihr Leben. Im April 2016 starben bis zu 500 Menschen bei einem Schiffbruch auf dem Weg von Libyen nach Italien. Nur einen Monat später kamen bei mehreren Unglücken binnen einer Woche mehr als 1.000 Menschen ums Leben: Unter anderem starben vor Kreta 300 Migranten. (APA, 15.6.2023)