Demo in London gegen Gewalt gegen Frauen. Zusammen ginge es leichter, so die Botschaft.
IMAGO/ZUMA Wire

"Hab viel Spaß, pass auf dich auf, lass dir nichts in den Drink schütten." Wenn meine beinahe volljährige Tochter von mir mit den üblichen Ausgehsätzen eingedeckt wird, verdreht sie immer ein bisschen die Augen und nickt zugleich zustimmend. Sie verdreht die Augen, weil ich andauernd das Gleiche sage und sie das alles schon tausendmal gehört hat. Sie nickt, weil sie weiß, dass ich recht habe. Sie war kaum ein Teenager, als sie von irgendeinem Typen in der Berliner U-Bahn dazu aufgefordert wurde, ihren Freund neben sich sitzen zu lassen, und lieber mit ihm nach Hause zu gehen. Dieser "Freund" war ich.

Ständige Belästigungen

Seitdem haben diverse Männer versucht, sich vor ihr zu entblößen und sie gegen ihren Willen anzufassen. Sie sind ihr hinterhergelaufen und haben ihr Angst gemacht. In der Schule haben sie und alle anderen Mädchen ein Hotpants-Verbot kassiert, weil das "unangemessen" sei und "den Jungs das Lernen erschwere". In der Fußgängerzone hat ihr jemand hinterhergeschrien, dass er sie ficken will, als sie sich gerade einen Kaffee kaufen wollte. Von Ostern bis Oktober wird sie auf dem Schulweg quasi durchweg gecatcallt. "Hey Süße, bleib doch mal stehen. Jetzt bleib doch mal stehen, ich will dich was fragen. Dann halt nicht, du eingebildete Schlampe! Du bist mir sowieso zu hässlich!" Woher ich das weiß? Weil ich dabei war.

Geheuchelte Überraschung

Überhaupt erzähle ich Ihnen hier nur die Dinge, die ich weiß. Tatsache ist, dass das nur einen Bruchteil dessen abbildet, was ihr und anderen Mädchen und Frauen tagtäglich passiert. Und das soll jetzt also irgendwie in Ordnung sein? Das ist die Wirklichkeit, in der wir uns achselzuckend einrichten und befinden, dass die Dinge eben sind, wie sie sind, und frau da halt durchmuss?

Warum eigentlich? Wieso ist das der Lauf der Welt? Warum tun wir Männer Abwertung um Abwertung, Übergriff um Übergriff, Vergewaltigung um Vergewaltigung, Femizid um Femizid so, als wäre nichts? Bei jedem neuen Fall heucheln wir Überraschung. Nein, der doch nicht, kann ich mir nicht vorstellen, bloß nicht übertreiben. Jedes Mal führen wir einen lächerlichen Eiertanz auf, weil wir einfach nicht wahrhaben wollen, wie systemisch und gesellschaftsbestimmend (sexualisierte) Gewalt gegen Frauen ist.

Oder was macht es mit Ihnen, wenn ich Ihnen sage, dass es Millionen Täter gibt? Dass Sie einen kennen, einen decken, einer sind oder alles zusammen? Dass das keine Einzelfälle sind, die leider, leider hier und da passieren, sondern unser misogynes Fundament ist, auf dem Sie und ich unseren täglichen Geschäften nachgehen. Auf dem 2019 ein Journalist nach einer Gruppenvergewaltigung an einer Frau in einem Stadtpark nachts durch ebenjenen lief und verkündete, er habe sich vollkommen sicher gefühlt. Ja, schön für dich, Dude!

Falls Sie jetzt den Eindruck haben, ich sei ein bisschen wütend, dann täuschen Sie sich. Ich bin stinksauer. Und zwar schon länger. Denn die meisten Männer, denen ich in meinem Leben bisher begegnet bin, schütteln über systematische Verachtung von und Gewalt gegen Frauen nur den Kopf. Weichen aus, finden das überzogen oder gar männerfeindlich und freuen sich, wenn ich endlich mein Maul halte. Mach ich aber nicht. Und wo ich gerade dabei bin, mich aufzuregen: Bei dem Gedanken daran, dass wir sexualisierte Gewalt gegen Frauen und Mädchen wie eine Naturkatastrophe behandeln, möchte ich am liebsten alles anzünden.

Wieso macht die Urlaub in einem Erdbebengebiet? Weshalb geht die ohne Schutzanzug an einen Vulkankrater? Warum segelt die mitten in einen Sturm?

Keine Naturkatastrophe

Auch ich kann mich davon nicht freisprechen. Auch ich sage meiner Tochter, dass sie sich nichts in den Drink schütten lassen soll, so als wäre es ihre Aufgabe, dafür zu sorgen. Auch ich tue zu oft wie alle anderen so, als wäre es unvermeidbar, ihre Freiheit und Unbeschwertheit zugunsten von Arschlöchern und deren gefühlten Anspruch auf Übergriffigkeit einzuschränken.

Sexualisierte Gewalt ist aber keine Naturkatastrophe. Es ist ein zumeist männliches Verbrechen, das auch von denen geschützt wird, die es selbst nicht begehen. Wir naturalisieren es, wir blasen es auf. Wir machen es zu einer Urgewalt und erklären damit, dass Frauen qua Geschlecht in einer Welt leben, in der im Bedarfsfall über ihre Körper verfügt wird. In der man sie zum Objekt macht und ihnen alles wegnehmen will, was ihnen gehört und was sie sind. Wir erklären diese Welt zum Schicksal, obwohl wir sie jeden Tag gegen Frauen neu erschaffen. Mit unserer Anspruchshaltung, unserer Gier, unserer Gewaltbereitschaft und unserem gekränkten Stolz. Mit unserem Desinteresse und unserer Ignoranz.

"Ja, aber was sollen wir denn tun?!" Vielleicht könnten wir ja mal damit anfangen, nicht mehr so zu tun, als wäre das alles vollkommen normal. Als handle es sich dabei um tragische Einzelfälle. Als gäbe es in jeder Generation nur einige wenige Männer, die sich in Bezug auf Frauen und Mädchen "danebenbenehmen".

Deadline dafür war übrigens vor ein paar Jahrhunderten. Worauf warten Sie eigentlich noch?! (Nils Pickert, 16.6.2023)