Die Beiträge für die UNRWA, das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten, stagnieren seit mehr als einem Jahrzehnt – einem Jahrzehnt, das der Region mehrere Krisen brachte: den Krieg in Syrien, den Kollaps des Libanon, Corona, die Gewaltspirale in Israel und den Palästinensergebieten. Die finanziellen Mittel würden nicht mehr lange reichen, sagt Philippe Lazzarini, Generalkommissar des Uno-Hilfswerks für palästinensische Flüchtlinge: "Müssten wir den gesamten Betrieb in der Region einstellen, hätte das katastrophale Folgen."

Vorwürfen wie dem einer zu starken Nähe zur Hamas oder dem, antisemitisches Unterrichtsmaterial zu verwenden, begegnet Lazzarini pragmatisch: "Wir müssen mit ihnen in Kontakt sein, um dort überhaupt arbeiten zu können." Eine Einmischung in die Arbeit der UNRWA gebe es jedoch nicht. 

STANDARD: Die UNRWA bietet Hilfe für registrierte Palästina-Flüchtlinge an. Können Sie uns mehr über diese Arbeit erzählen?

Lazzarini: Die UNRWA ist eine ziemlich einzigartige Organisation innerhalb des Systems der Vereinten Nationen. Wir sind die Einzigen, die das Mandat haben, öffentliche Dienstleistungen für palästinensische Flüchtlinge bereitzustellen. Wir haben 550.000 Mädchen und Buben in unseren Schulen und stellen für rund zwei Millionen Menschen die medizinische Grundversorgung. Wir bieten soziale Dienste für die Ärmsten unter den Armen und auch viele unterstützende Dienstleistungen in den Lagern, wie Müllabfuhr, Wasserleitung usw. De facto funktionieren wir also fast wie ein Bildungsministerium, ein Gesundheitsministerium, ein Sozialministerium. Wir sind im Libanon, Syrien, Jordanien, der Westbank mit Ostjerusalem und in Gaza präsent.

Zwei Palästinenser - eine Frau und ein Mann - stehen in einer Tür.
Am Eingang des UNRWA-Flüchtlingslagers in Gaza-Stadt.
APA/AFP/MAHMUD HAMS

STANDARD: Einige Leute sind der Meinung, dass die UNRWA lediglich die bestehende Situation weiterführt, anstatt Integration zu fördern und damit die Anzahl der Flüchtlinge zu reduzieren. Was sagen Sie dazu?

Lazzarini: Es stimmt, dass palästinensische Flüchtlinge an einigen Orten in dem Land, in dem sie sich befinden, sozioökonomisch nicht so inkludiert waren. Das ist aber das Ergebnis politischer Umstände. Vier der Gebiete, in denen wir tätig sind, befinden sich in einer Krise. Nehmen wir das Beispiel Libanon: Die Flüchtlinge haben keinen Zugang zu einem großen Teil des Arbeitsmarktes und auch nicht die Möglichkeit, Land und Eigentum zu kaufen. Wir stehen in ständigem Kontakt mit der Regierung, um eine bessere sozioökonomische Inklusion zu fördern.

Wir sollten bei unserer Gründung eigentlich eine temporäre Organisation sein. 2024 feiern wir schon unser 75-Jahr-Jubiläum. Aber es gibt eigentlich nichts zu feiern, denn dieses "Jubiläum" ist nichts anderes als der Ausdruck des kollektiven Versagens der internationalen Gemeinschaft, eine politische Lösung für den israelisch-palästinensischen Konflikt zu finden. Humanitäre Hilfe ist nicht für diesen Konflikt verantwortlich. Ich glaube sogar, dass wir durch Investitionen in die menschliche Entwicklung Stabilität fördern. Und es gibt, wenn man sich die letzten Jahrzehnte anschaut, auch viele Erfolgsgeschichten – Menschen, die zum Wohlstand der Golfregion beigetragen haben.

STANDARD: Die UNRWA wird fast ausschließlich durch freiwillige Beiträge der UN-Mitgliedstaaten finanziert, und in den letzten Jahren ist das Hilfswerk unterfinanziert. Wie sieht die Zukunft der UNRWA aus?

Lazzarini: Unsere Finanzierungskrise ist so tief, dass ich heute noch nicht weiß, wie wir über den September hinaus operieren sollen. Gleichzeitig benötigen wir dringend fast 75 Millionen US-Dollar, um die Lebensmittelversorgung in Gaza aufrechtzuerhalten. Dort sind heute vier von fünf Menschen vollständig auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen. Müssten wir Ende September den gesamten Betrieb in der Region einstellen, hätte das katastrophale Folgen.

Und jetzt, wo es keinen politischen Rahmen, keinen politischen Prozess und keinen politischen Horizont für die Lösung des Konflikts gibt, sind wir die letzte verbliebene Hoffnung für die palästinensischen Flüchtlinge. Wenn sie das Gefühl haben, von der internationalen Gemeinschaft verlassen zu werden, schürt das nur noch mehr Not, Verzweiflung, aber auch Wut in der Bevölkerung.

Daher mein Appell an die Mitgliedstaaten, die Diskussion jetzt zu intensivieren – wir drohen unterzugehen. Noch sind wir nicht gesunken. Es ist immer noch vermeidbar. Dies erfordert jedoch politischen Willen.

Eine Schulklasse streckt jubelnd die Arme in die Höhe.
Besuch bei den Schülerinnen und Schülern in Gaza-Stadt.
APA/AFP/MAHMUD HAMS

STANDARD: Es stehen auch viele Vorwürfe gegen Sie im Raum. Zum Beispiel, dass die UNRWA der Hamas zu nahesteht.

Lazzarini: Unser Haupteinsatzgebiet liegt im Gazastreifen, und da hat de facto die Hamas das Sagen. Wir müssen also mit ihr in Kontakt sein, um dort überhaupt arbeiten zu können. Aber ich kann Ihnen heute sagen, dass es keine Einmischung in irgendeiner Art und Weise gibt. Wir entscheiden, wer an unsere Schule geht und wer Zugang zu unseren Lernangeboten hat. Wir entscheiden, wer eingestellt wird. Hier gibt es absolute Transparenz, und niemand versteckt sich hinter einer anderen Identität.

STANDARD: Kritik gab es auch an antisemitischen Unterrichtsmaterialien oder hetzerischen Postings von Lehrern.

Lazzarini: Ich verfolge hier eine Null-Toleranz-Politik. Es gibt keinen antisemitischen, diskriminierenden, rassistischen oder intoleranten Unterricht an unseren Schulen. Ja, wir verwenden den palästinensischen Lehrplan und palästinensische Lehrbücher. Wir analysieren aber das gesamte Material, das in unserer Schule verwendet wird.

Das Hauptproblem ist, dass es Themen gibt, bei denen das israelische Narrativ möglicherweise nicht mit dem der Palästinenser übereinstimmt. Es ist schwierig, diese beiden Erzählungen unter einen Hut zu bringen, besonders in einer Zeit, in der der Konflikt noch nicht vorbei ist. Und selbst wenn der Konflikt vorbei ist, kann es Jahrzehnte dauern, bis wir uns auf die Vergangenheit einigen können. Dass wissen wir in Europa nur zu gut.

Zum zweiten Punkt: Wann immer uns ein Fall zur Kenntnis gebracht wird, dass ein Lehrer oder Mitarbeiter zu Gewalt aufruft, wird dieser untersucht, und gegebenenfalls werden disziplinäre Maßnahmen ergriffen. Anstiftung zu Gewalt ist völlig inakzeptabel.

STANDARD: Es gibt aber sogar Stimmen, die das als Vorwand nehmen, die UNRWA abzuschaffen.

Lazzerini: Wir werden regelmäßig ins Visier genommen, aber das ist oft politisch motiviert. Die Leute, die meinen, dass wir, nun ja, nicht mehr operieren sollten, bieten aber überhaupt keine Alternativen. Wie will man im Gazastreifen die Bildung der Kinder sicherstellen? Wir streben auch nach 75 Jahren immer noch danach, eine temporäre Organisation zu sein. Aber dafür müsste eben der echte politische Wille zurückkehren, den Konflikt zu beenden. (Manuela Honsig-Erlenburg, 16.6.2023)

Der Schweizer Philippe Lazzarini (59) leitet seit 2020 das Uno-Hilfswerk UNRWA (United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees). Die UNRWA war einst als temporäre Organisation gegründet worden, um palästinensische Flüchtlinge nach 1948 zu versorgen. Seither wird das Mandat alle drei Jahre verlängert.
AP/John Minchillo, File