Drohnenaufnahme einer Frau, die in einer Wiese liegt und die Hände im Nacken hat. 
Die Langeweile aushalten und einfach nur sein? Klingt einfach, können aber die wenigsten.
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Nur noch ein paar Wochen durchhalten, aber dann … – dann steht der Urlaub bevor, und viele freuen sich darauf, endlich einmal wieder richtig herunterzukommen und Kraft zu tanken. Dabei ist das alles nur ein Tropfen auf den heißen Stein, findet Michael Stuller. Der ehemalige Radiomoderator ist heute als Psychotherapeut und Facharzt für Psychiatrie tätig. In der Praxis beobachtet er schon seit längerem: Wir entspannen nicht nur viel zu wenig, die allermeisten haben auch verlernt, wie das überhaupt geht – und stürzen sich nach dem Urlaub direkt zurück in den Dauerstress. Stuller kennt das aus eigener Erfahrung: "Ich war selbst jahrelang aufgewühlt und Heißläufer der Extraklasse", erzählt er.

Mit seinem neuen Buch "Komm runter" will er zeigen, wie man sich langfristig von Stress befreit. Denn fünf Wochen Urlaub und ein paar Achtsamkeitsübungen hier und da könnten den Stress von 365 Tagen im Jahr nicht ausgleichen.

STANDARD: Ihr Buch ist eine Anleitung zum Ausruhen. Warum fällt das vielen so schwer?

Stuller: Weil viele es falsch verstehen. Die meisten Menschen suchen Ruhe und versuchen es dann mit Atemtechniken und Achtsamkeitsübungen. Davon rate ich ab. Das ist vielleicht kurzfristig eine gute Idee, aber um langfristig entspannt zu sein, muss man sich für die Ruhe entscheiden. Oder man entscheidet sich bewusst dagegen. Das ist immer noch besser als zu versuchen, sich vom Stress zu befreien und ständig daran zu scheitern. Dann kann man wenigstens nicht enttäuscht und in weiterer Folge noch frustrierter werden.

Das andauernde Versuchen wird vielen zum Verhängnis. Man kennt diesen Teufelskreis von Fitnessstudios. Die Leute versuchen fitter zu werden, gehen ins Fitnessstudio und hören nach zwei Monaten wieder auf. Von den restlichen zehn Monaten, die sie bezahlt haben, lebt das Studio.

STANDARD: Und was ist das Fitnessstudio für die Seele?

Stuller: Schwierig. Ich denke, das tragen wir in uns. Denn Ruhe ist genauso wie Fitness eine langfristige Lebensstiländerung. Das bedeutet, man muss sich auf einen langen Prozess einstellen und sich die Frage stellen, ob man das wirklich will – was natürlich zu empfehlen ist –, und sich dann aktiv dafür entscheiden. Und zwar immer und immer wieder. Die Leute, die das Fitness-Abo ein ganzes Jahr nützen, haben sich wirklich dafür entschieden.

STANDARD: Wie sieht dieser Prozess aus?

Stuller: Die meisten Leute zerbrechen sich den Kopf über Dinge, die sie nicht beeinflussen können. Sie arbeiten sich am Ungreifbaren ab. Schlussendlich kann man nur zwei Dinge beeinflussen: das, was man denkt. Und das, was man tut. Ich kann unmittelbar nicht die Inflation oder eine Pandemie beeinflussen. Aber ich kann steuern, wie ich darauf reagiere. Das zu akzeptieren ist der erste Schritt.

STANDARD: Wie geht es dann weiter?

Stuller: Man muss sich von der Meinung der anderen lösen. Für viele spielt es eine große Rolle, wie die anderen über einen denken. Dadurch haben Außenstehende einen großen Einfluss auf das eigene Wohlbefinden. Aber wenn man kritisiert wird, wird man nicht unmittelbar schlechter. Und wenn man gelobt wird, wird man nicht unmittelbar besser.

STANDARD: Sich von der Meinung anderer zu lösen ist für viele leichter gesagt als getan. Wie kann das gelingen?

Stuller: Nicht von heute auf morgen. Eine einfache Übung für den Alltag kann sein, sich auf die fünf Sinne zu besinnen, Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen. Die sind wesentlich für die Ruhe. Einfach einmal beobachten, was man wahrnimmt, und das dann wertfrei aufnehmen.

Ich bin beispielsweise heute aufgewacht und habe ein weißes Tapetenmuster gesehen, die Decke auf meinem Körper gespürt und eine Amsel zwitschern gehört. Es war keine lästige Amsel, die mich geweckt hat, keine kuschelige Decke, sondern nur eine Decke, und kein kitschiges Tapetenmuster, sondern einfach nur ein Muster. Diese Übung sollte man sich für das alltägliche Leben aneignen. Dann passiert etwas, das für die Ruhe unabdingbar ist. Man ist im Hier und Jetzt.

STANDARD: Ist nicht genau das auch eine Achtsamkeitsübung?

Stuller: Es geht darum, dass man das immer wieder übt und konsequent bleibt. Nur dann hilft es dabei, sich wieder auf das Wesentliche zu besinnen. Einfachheit ist vielen deshalb suspekt, weil sie nichts kostet. Es gibt Achtsamkeitsseminare, die für mehr als 3.000 Euro angeboten werden, und die sind ausgebucht. Dabei ist Entspannung so etwas Simples.

Zu meiner Zeit als Journalist habe ich einmal einen Beitrag über Eremitinnen gemacht. Ich bin mit Mikrofon im Gepäck zu ihnen gefahren, und bei meiner Ankunft habe ich die Eremitin ganz oberflächlich gefragt: "Grüß Gott, wie geht es Ihnen?" Sie hat innegehalten und dann gesagt: "Danke, ich bin zufrieden." Das hat mich berührt, weil sie nicht nur reagiert und unmittelbar geantwortet hat: "Danke, gut. Und Ihnen?" Sie hat innegehalten und wahrgenommen.

Hellblaues Cover des Buches
In "Komm runter – Ruhe lernen" begleitet der Psychotherapeut und Facharzt für Psychiatrie Michael Stuller auf dem Weg zu einem langfristig entspannten Leben. Edition-a-Verlag, 224 Seiten, 24 Euro.
edition a

STANDARD: Die Lösung für ein stressfreies Leben ist aber wohl für die wenigsten ein Dasein als Eremit oder Eremitin …

Stuller: Soll es auch nicht sein. Langfristige innere Ruhe kann nur gelingen, wenn ich auch sozial zugewandt bin und mich nicht ausschließlich mit mir selbst beschäftige. Deshalb rate ich auch von Atemtechniken als einziges Mittel zur Entspannung ab. Wir kehren dabei in uns und schotten uns von anderen ab. Aber Ruhe ist kein egomanes Konzept. Und die Unruhe ist ähnlich wie die Angst in erster Linie nichts Krankhaftes. Sie ist nur ein wichtiger Hinweis, dass etwas nicht so läuft, wie es uns guttun würde.

Ich frage meine Klientinnen und Klienten am Ende der Stunde immer, wie es Ihnen nun geht. Viele sagen dann "besser." Dabei habe ich eigentlich nicht wirklich etwas gemacht. Nüchtern betrachtet habe ich nur mit ihnen geredet. Das zeigt, wie entschleunigend soziale Zugewandtheit auf uns wirkt. Wie entspannend es ist, wenn man sich auf ein Gespräch tatsächlich konzentriert und nicht währenddessen auf das Handy schaut oder schon überlegt, was man am Abend essen soll.

STANDARD: Ruhe bedeutet also, im Moment zu sein?

Stuller: Auf körperlicher Ebene bedeutet Ruhe ein gesundes Zusammenspiel zwischen Sympathikus und Parasympathikus, also jenen Teilen unseres Nervensystems, die steuern, wie aufgeregt oder entspannt wir uns fühlen. Auf psychischer Ebene bedeutet Ruhe, adäquat und nicht aufgewühlt zu handeln. Stellen Sie sich eine Sanduhr vor. Oben ist die Zeit, die noch bleibt, unten ist die, die schon abgelaufen ist. Die meisten konzentrieren sich auf den Sand oben oder unten, aber das Leben findet dort statt, wo der Sand durchrieselt. Die wenigsten sind aber gedanklich an der Stelle, am ehesten Kinder. Eine Kollegin, die Kinderpsychiaterin ist, meinte einmal, sie mache sich am wenigsten Sorgen um jene Kinder, die die Langeweile aushalten. Erwachsene müssen das erst wieder lernen. Das ist deshalb wichtig, weil in der Langeweile oft kreative Prozesse starten. Und wer diese Zeit, in der nichts passiert und in der man nichts leisten muss, aushält, kann auch gut ruhen.

STANDARD: Verlernen wir durch die Erziehung dieses Im-Moment-Leben?

Stuller: Ja, und in gewisser Weise ist das auch notwendig. Das Leben ist ja von vielen Regeln und Vorgaben bestimmt, durch die entsteht ein Tagesrhythmus. Das ist auch wichtig, Regelmäßigkeiten geben uns Halt. Bei Leuten, die im Erwachsenenalter unrund sind, fällt mir in ihren Berichten oft auf, dass sie als Kind kaum Vorgaben hatten und auch heute kaum Regelmäßigkeiten im Leben haben.

Als Psychiater frage ich beim Erstgespräch immer, wie es mit dem Schlaf aussieht. Der ist bei vielen sehr unregelmäßig, manchmal ist es beim Schlafengehen 22 Uhr, manchmal drei Uhr Früh. Ich frage auch nach anderen Regelmäßigkeiten im Alltag. Manche sagen dann, sie frühstücken. Wenn man aber genauer fragt, zeigt sich, dass sie frühstückende Zeitungsleser oder zeitungslesende Frühstückerinnen sind. Aber sie frühstücken nicht einfach nur. Wir sollten viel öfter nur eine Sache tun, ohne dabei schon an die nächste Sache zu denken.

Porträtaufnahme des Psychiaters und Buchautors Michael Stuller vor schwarzem Hintergrund 
"Bei Achtsamkeitsübungen schottet man sich von anderen ab, aber Entspannung kann nur mit sozialer Zugewandtheit gelingen", sagt Michael Stuller.
interfoto

STANDARD: Wie kann das in einer schnelllebigen Gesellschaft gelingen?

Stuller: Das ist tatsächlich schwierig. Selbst ich muss immer wieder bewusst gegensteuern, es prasseln ja permanent Eindrücke auf uns ein. Die schnelllebige Zeit kann ich aber nicht verändern, ich kann mich ihr nur anpassen und schauen, was ich für mich benötige, damit ich in diesen Sog nicht unentwegt hereingezogen werden. Mir persönlich hilft ein intensives Nachrichten-Intervallfasten. Ich habe gemerkt, dass mir Nachrichtensendungen vor dem Schlafengehen nicht guttun, deshalb höre ich sie am Abend nicht mehr. Oder wenn ich mich bei Besorgungen abhetze, versuche ich, mir das bewusst zu machen und gehe absichtlich etwas langsamer. Das entschleunigt ungemein. Bei mir läuten mittlerweile die Alarmglocken, wenn ich beginne, mich zu stressen. Aber dass man sich in hektischen Zeiten immer wieder zu einer Art innerer Ruhequelle zurückziehen kann, ist eben das Ergebnis eines langen Prozesses, für den man sich entscheiden muss.

Ein Beispiel: Der Nachbar bei mir in der Garage ist mit seiner Autotür immer wieder gegen mein Auto gestoßen. Vor 15 Jahren wäre ich zu ihm gegangen und hätte ein Mordstheater gemacht. Heute ist es mir immer noch nicht egal, aber ich erkenne den Moment, in dem ich beginne, mich zu ärgern. Und dann kann ich quasi auf einen Pausenknopf drücken, weil ich weiß, dass ich gerade nicht adäquat handeln würde. Oft muss zwischen dem Reiz und dem Handeln Zeit vergehen. Nur wenn man in der Ruhe ist, kann man bewusst handeln. Ich bin dann später zu ihm gegangen und habe gesagt: "Ich würde Sie bitten, dass wir das über die Versicherung abwickeln."

STANDARD: Sie sprechen bei Entspannung in erster Linie vom Innehalten und Ruhigsein. Können wir auch durch Aktivität, etwa Bewegung im Freien, entspannen?

Stuller: Absolut. Aber die Ruhe hat eine besondere Kraft. Und Ruhigsein ist ja auch etwas sehr Aktives. Man nimmt dabei wahr. Bewegung ist toll, solange sie kein Davonlaufen ist, im wahrsten Sinne des Wortes. Die Eremitin damals meinte: "In der Stille kommen Dinge zur Sprache, die man manchmal gerne verdrängen möchte." Dem stimme ich zu.

STANDARD: Woran merkt man, dass man selbst mehr Ruhe brauchen würde?

Stuller: Das ist schwierig zu beantworten, weil ich befürchte, dass man es oft zu spät merkt. Die wenigsten spüren wirklich in sich hinein. Das hat viel mit Konformität zu tun, dem größten Feind der inneren Ruhe. Viele machen einfach das, was halt alle machen, ohne zu hinterfragen, was sie selbst eigentlich wirklich wollen. Und das geht wiederum Hand in Hand mit der Meinung der anderen. Der wichtigste Tipp ist, so banal er auch klingt: Bleiben Sie sich selbst treu. (Magdalena Pötsch, 18.6.2023)