Reisende soll man nicht aufhalten, heißt es. Im Fall von Karin Kneissl wird das eventuell auch niemand tun: Selten noch hat sich jemand so gründlich zwischen alle Stühle gesetzt wie die ehemalige Außenministerin.

Jedenfalls fast alle: Der russische Stuhl steht ihr noch zur Verfügung. Deshalb zierte sie das diesjährige Sankt Petersburger Wirtschaftsforum mit gleich drei Auftritten, während sich westliche Vertreter fast ausnahmslos von der propagandistischen Veranstaltung fernhielten.

Die 58-Jährige teilte mit, sie denke ernsthaft daran, nach Russland zu ziehen. In Sankt Petersburg werde an der Universität ein politischer Thinktank namens Gorki eingerichtet, den sie leiten werde. Um den russischen Pass zu beantragen, müsse sie jedoch erst besser Russisch lernen. Tolstois Krieg und Frieden müsse sie lesen, Dostojewski und Tschechow. Vielleicht sollte sie ihre Leseliste um Solschenizyn erweitern, um das Regime von Wladimir Putin besser verstehen zu lernen.

Kneissl selbst sieht sich als Politflüchtling: 2020 kehrte sie Österreich den Rücken und zog nach Frankreich, 2022 in den Libanon. Zuvor musste sie wegen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine ihren lukrativen Rosneft-Aufsichtsratsjob zurücklegen. Österreich vermisse sie nicht, sagt Kneissl.

Bekannt aus dem TV

Die gebürtige Wienerin wuchs zum Teil in Jordanien auf, wo ihr Vater als Pilot arbeitete. In Wien studierte sie Jus und Arabistik. Ihre Dissertation führte sie nach Jerusalem, Amman, Washington und Paris. 1990 trat die sechs Sprachen sprechende Kneissl in den diplomatischen Dienst ein und war acht Jahre für das Außenministerium tätig.

Sie arbeitete als freie Journalistin, schrieb mehrere Bücher zumeist zu Nahost-Themen und erlangte als TV-Analytikerin Bekanntheit. Sie lehrte auch an der Uni Wien, der Diplomatischen Akademie und der Militärakademie. 2017 wurde sie in der Regierung Kurz I parteilose Außenministerin auf einem FP-Ticket. Mit der FPÖ verscherzte sie es sich spätestens 2019 nach dem Aufkommen der Ibiza-Affäre, als sie den gemeinsamen Rücktritt mit den blauen Ministern verweigerte.

Internationale Wellen verursachte ihre Hochzeit im August 2018, der ausgerechnet Putin beiwohnte – Tänzchen und Knicks der Braut vor dem Diktator inklusive. Glück hat ihr das nicht gebracht: Keine zwei Jahre später kam es zur Trennung, nachdem Kneissl ihren Ehemann wegen häuslicher Gewalt angezeigt hatte – ein Vorwurf, den dieser dementierte. (Michael Vosatka, 16.6.2023)