REPORTAGE: Daniela Prugger aus Afanassijiwka und Cherson

 Vorsichtig nimmt Leonid Bidnitschenko die Lupe in die Hand, die er normalerweise verwendet, um sein Kreuzworträtsel zu lösen oder die Zeitung zu lesen. Er legt sie ordentlich auf den Tisch, neben den Kugelschreiber, neben die Brillenetuis mit den Lesebrillen, neben die Tischuhr. Dann setzt sich der 83-Jährige in Baseballcap und übergroßem T-Shirt, das er von einer Hilfsorganisation bekommen hat, langsam auf den Stuhl und atmet aus. Er sagt nichts, blickt nur fassungslos um sich, auf den Schlamm, der auf dem Fußboden liegt, die nassen Pölster und Decken auf dem Sofa, das aufgeweichte Papier der Tapete. Sein Haus war sein ganzes Leben. Und erst jetzt, da das Wasser nach der Flut langsam zurückgeht, werden die Schäden sichtbar.

Im Nebenzimmer hält sich seine Ehefrau Lydiya, Kopftuch, blaues Kleid mit Blumenmuster, die Hände vor den Mund, als sie den Kleiderschrank öffnet, aus dem das Wasser tropft. Es riecht modrig, es riecht nach See. Hier drinnen werden die beiden so bald nicht schlafen können, sondern, wie so viele andere Betroffene auch, bei Verwandten unterkommen. Das Ehepaar Bidnitschenko hat sein ganzes Leben im Dorf Afanassijiwka verbracht, 41 Kilometer nördlich der Stadt Cherson, in der Oblast Mykolajiw. Vor der Flut war die Ortschaft fast vollständig vom Inhulez umgeben, einem Nebenfluss des Dnjepr. Nachdem etwa fünfzig Kilometer nordöstlich von Afanassijiwka der große Kachowka-Staudamm zerstört worden war, überfluteten Wassermassen riesige Gebiete, wo Zehntausende Menschen leben. Auch der viel kleinere Nebenfluss Inhulez lief über die Ufer. In Afanassijiwka saßen die Einheimischen zuerst wie auf einer Insel fest, wurden dann evakuiert und in andere Dörfer gebracht.

Das Ehepaar Bidnitschenko versucht inmitten von Schlamm- und Wasserschäden, sein Haus wieder bewohnbar zu machen.
Foto: Olga Ivashchenko

"Wir hatten alles", sagt Wolodymyr Saporoschtschenko, der 64-jährige Schwiegersohn des Ehepaars Bidnitschenko. Er meint damit nicht nur ein Dach über dem Kopf, sondern auch Lebensmittel aus den Gemüsegärten und das Trinkwasser aus den Brunnen. "Nun können wir nicht mal mehr fischen." Er krempelt seine Hosen ein wenig hoch und sucht hinter dem Wohnhaus nach einem Beil, um eine der Türen aufzubrechen, die sich nach dem Hochwasser nicht mehr öffnen lassen. Das Wasser gehe zwar zurück, aber langsam. Er öffnet das Tor, das in den Garten und zur Scheune führt, die noch immer knapp einen Meter tief unter Wasser steht. Eine Mischung aus Trauer und Wut fühle er, sagt Saporoschtschenko. Darüber, dass seine Schwiegereltern ihr Lebensende so verbringen müssten – als wären die langen Monate unter russischer Besatzung bis zur Befreiung durch die ukrainische Armee im Herbst nicht schon genug gewesen.

Rückkehr beginnt

Mehr als eine Woche nach der Zerstörung des Damms bringen freiwillige Helfer Trinkwasser, Lebensmittel und Kleidung mit Booten oder zu Fuß watend in die Ortschaft. Laut einer Nachbarin des Ehepaars Bidnitschenko sei mittlerweile rund die Hälfte der Bewohnerinnen und Bewohner zurückgekehrt, so genau wisse das aber niemand. Vor dem Krieg hatte Afanassijiwka etwa 160 Einwohner, sagt sie. Mittlerweile wohnen vor allem noch die Älteren hier, die Pensionierten. Jene, denen aufgrund der monatlich umgerechnet knapp siebzig Euro Pension die Mittel fehlen, irgendwo sonst nochmals neu anzufangen. Nun versuchen sie, von ihrem Besitz zu retten, was zu retten ist – während aus der Ferne immer wieder Explosionen zu hören sind. Die Front befindet sich knapp fünfzig Kilometer Luftlinie von hier entfernt, in der Stadt Cherson etwa, die direkt am Fluss Dnjepr liegt.

Zuerst zieht Oleksandr Schadan seine Schuhe aus, dann die Socken und die Hose. "Ich möchte mir jetzt ansehen, ob ich etwas retten kann", sagt der Pensionist, der während der Sowjetunion als Soldat diente und danach als Mechaniker im Chersoner Hafen arbeitete. Er hängt seine Kleidung an das Gartentor. Dann erklärt er mit ruhiger Stimme, dass er nun erst mal die Bretter aus dem Weg räumen müsse, um dann im hüfthohen Wasser durch den Garten, ins Haus und bis nach hinten in die Küche und das Wohnzimmer zu gelangen, von wo er das Teeservice, einige Gläser und das Schachbrett holen will. Außer seinen Dokumenten und dem Hund konnte er nichts mitnehmen, als das Wasser kam. Seither war er nicht mehr da.

Oleksandr Schadan ist erstmals nach der großen Flut wieder in seinem Haus. Er findet – knietief im Wasser watend – nur noch Zerstörung vor.
Foto: Olga Ivashchenko

Er floh am 6. Juni aus dem Haus, irgendwann reichte ihm das Wasser bis zum Kinn, erinnert er sich. Jetzt kommt er im Apartment einer Bekannten unter, die die Stadt verlassen hat und die nun umgerechnet 60 Euro Miete im Monat von ihm verlangt – etwa die Hälfte seiner Pension. Schadan lebt in jenem Stadtteil in Cherson, der fast vollständig unter Wasser stand. Mehr als eine Woche nach der Zerstörung des Staudamms weicht auch hier das Wasser zurück.

Eine kleine Treppe führt vom Eingangstor hinunter auf die Terrasse vor seinem Haus. Langsam steigt er in das kalte Wasser. Er kennt die Anzahl der Treppen: vier. Doch er sieht nicht, was sich auf dem Boden befindet. Mit in die Hüften gestützten Armen betrachtet der 74-Jährige sein Familienhaus und die Veranda, auf der er im Sommer morgens immer mit seiner Tasse Kaffee saß, unter einem Rosenbogen und den Weinreben, die am Spalier emporrankten. "Ich hatte einmal einen Garten", sagt er. "Jetzt habe ich einen Sumpf."

Zwischendrin eine Frontlinie

"Alles voller Schlamm", sagt Schadan und bückt sich mühsam unter die Bretter und Äste hinweg, bleibt dabei mit dem blau-gelben Polohemd fast an einem hervorstehenden Nagel hängen. Nach einer Stunde erreicht Schadan endlich sein Haus. Das Dach biegt sich gefährlich tief, die Wände aus Lehm sind an manchen Stellen eingebrochen. Vor ihm schwimmt das, was er einst in den Küchenschränken stehen hatte: eine Packung Kaffee, eine Packung Pasta, eine ganze Küchenlade. Im Raum daneben weist Schadan darauf hin, dass das hier das Schlafzimmer war. Es ist als solches kaum mehr erkennbar. Er schweigt eine Weile und stellt dann nüchtern fest: "Ich habe kein Haus mehr."

Wie viele andere Bewohner verbringt er den ganzen restlichen Tag mit dem Versuch, ein wenig aufzuräumen. Einige Nachbarn tun es ihm gleich. Eine Frau weint, als sie sieht, dass ihre Straße noch immer unter Wasser steht. Ein anderes Paar sucht seine beiden Katzen, doch auf die Lockrufe folgen nur zwei schmutzige Straßenhunde. Als Schadan am späten Nachmittag in das Apartment zurückkehren will, verpasst er den letzten Bus und legt die Strecke zu Fuß zurück – 40 Minuten. "Wenn ich noch jung wäre, dann könnte ich noch mal anfangen und alles wieder aufbauen", sagt Schadan. Sein einziges lebendes Familienmitglied, seine Tochter, lebt auf der Krim. "Sie hat zu mir gesagt, dass ich zu ihr kommen soll", erzählt er. "Aber zwischen uns liegt eine Frontlinie."

Nachbarinnen trösten einander gegenseitig.
Foto: Olga Ivashchenko

Gemäß offiziellen ukrainischen Stellen wurden seit der Zerstörung des Kachowka-Staudamms etwa achtzig Siedlungen in den nebeneinanderliegenden Oblasten Mykolajiw und Cherson überflutet. Die Anzahl der Opfer wurde in den vergangenen Tagen erneut nach oben korrigiert und liege mittlerweile bei mindestens zwölf Toten, zwanzig Verletzten und 42 Vermissten, teilte die Militäradministration von Cherson mit. Die meisten davon zähle das Gebiet, das sich unter russischer Kontrolle befindet und wo unabhängige Beobachter, internationale Hilfsorganisationen und Journalistinnen und Journalisten keinen Zugang haben.

Yewhen Ryschtschuk hat Zugang, zumindest zu Informationen. Er ist der gewählte Bürgermeister der besetzten Kleinstadt Oleschki. Die Ortschaft befindet sich gegenüber von Cherson, auf der anderen Seite des Dnjepr und wurde zu neunzig Prozent überflutet. Zuerst, erzählt Ryschtschuk, der einige Wochen nach Kriegsbeginn nach Kiew geflüchtet war und seither in der Hauptstadt im Exil lebt, hätten Leute angerufen, die nicht wussten, wohin sie fliehen sollten. Dann jene, die berichteten, dass die Russen sie nicht gehen ließen.

Rettungshelfer unterstützen die Menschen in Afanassijiwka auch dabei, von A nach B zu kommen.
Foto: Olga Ivashchenko

Die russische Verantwortung

Viele hätten seine Telefonnummer, sagt Ryschtschuk. "Das bedeutet, dass ich nicht schlafen kann, weil mich die Leute rund um die Uhr anrufen", sagt Ryschtschuk. Der Ort, an dem in Oleschki am meisten Leute untergebracht seien, sei jetzt das Krankenhaus. Ein Telefongespräch, das sich ihm am meisten eingeprägt habe, war "als der Chefarzt der Klinik anrief und sagte, dass einer seiner Freiwilligen zwischen den Häusern eine Leiche schwimmen sah". Dass die russischen Invasoren den Staudamm absichtlich zerstört haben, steht für ihn außer Frage.

Laut ukrainischem Sicherheitsdienst SBU sollen das mittlerweile auch abgehörte Telefongespräche zwischen russischen Militärs bestätigen. Das unabhängige norwegische Seismologie-Institut Norsar erklärte zuletzt, dass zum Zeitpunkt des Dammbruchs eine Explosion im Gebiet gemessen worden sei. Der genaue Hergang wird noch untersucht – laut Präsident Wolodymyr Selenskyj bereits auch vom Internationalen Strafgerichtshof. An die Langzeitfolgen, auch Krankheiten, kann vor Ort noch niemand denken.

In einem sind sich alle einig: Erneut sind die ukrainischen Zivilisten die Leidtragenden. "Wir sind hier aufgewachsen, haben unser ganzes Leben hier gelebt", sagt der 64-jährige Wolodymyr Saporoschtschenko in der Ortschaft Afanassijiwka, "es bricht mir das Herz."

Wolodymyr Saporoschtschenko: "Es bricht einem das Herz."
Foto: Olga Ivashchenko

Neben seiner Scheune treiben tote Fische im Wasser. Er klettert über Holzbalken nach hinten und findet einen Kübel und die Axt. Macht sich an die Arbeit, öffnet Türen, stellt Möbel auf. Vieles müsse entsorgt werden, erklärt er. Und hängt dann fest entschlossen an: "Wir werden das alles wieder aufbauen." Fast so, als müsse er es sich selbst einreden. (Daniela Prugger aus Afanassijiwka und Cherson, 21.6.2023)