Eine Flamme auf einem Gasherd
Nach der Gasnot im Vorjahr scheint es im Moment und auch noch länger genug Gas zu geben. Die Preise im Großhandel sind stark gefallen.
APA/AFP/INA FASSBENDER

Einer von Europas wichtigsten Gasversorgern kämpft mit Lieferschwierigkeiten. Die LNG-Anlage im norwegischen Hammerfest, die größte Erdgasverflüssigungsanlage in Europa, musste wegen eines Gaslecks Ende Mai ihre Produktion einstellen. Zwar läuft das Werk inzwischen wieder, doch eine Reihe anderer Anlagen steht wegen Wartungsarbeiten still, etwa Shells Werk in Nyhamna, in dem vor der Küste gewonnenes Gas für den Pipelinetransport verarbeitet wird.

Die Folge der Ausfälle ist, dass Norwegens Gasproduktion im Mai um ein Fünftel eingebrochen ist; auch im Juni dürfte weniger Gas nach Europa kommen. Sie haben nichts bemerkt? Kein Wunder.

Die Probleme Norwegens haben in Verbindung mit dem warmen Wetter in Europa und dem leicht erhöhten Energiebedarf die Gaspreise zuletzt zwar leicht erhöht. Von Panik, wie sie noch vor einem Jahr angesichts jeder schlechten Nachricht am Energiemarkt üblich gewesen wäre, fehlt diesmal jede Spur. So liegt der Preis für eine Megawattstunde (MWh) Gas auf der Energiebörse TTF aktuell um die 35 Euro. Vor einem Jahr war es mehr als doppelt so viel, um die 80 Euro – und im August 2022 mit 300 Euro je MWh sogar fast zehnmal so viel.

Der Standard

Seither geht es bergab. Und die Preise bleiben relativ niedrig. Das ist überraschend. Hauptursache der Kostenrallye im Vorjahr war der Angriff Russlands auf die Ukraine. Die Angst vor einer Gasknappheit hat die Preise, die schon 2021 gestiegen sind, nach oben katapultiert. Russlands Staatschef Wladimir Putin hat die Gaslieferungen nach Europa gedrosselt – über die Jamal-Pipeline, die Deutschland und Polen versorgt hat, kommt nichts mehr. Europa hat es aber nicht nur geschafft, das russische Gas großteils durch Lieferungen aus anderen Quellen zu ersetzen. Auch die Vorhersagen, Gas werde sich dramatisch verteuern, haben sich als stark übertrieben herausgestellt – zumindest bis jetzt.

Dabei ist die Nachfrage nach Gas weltweit hoch geblieben: Die EU hat ihren Verbrauch im Vorjahr um 13 Prozent reduziert. Der milde Winter half dabei ebenso wie Sparanstrengungen. Dafür kehrten andere Käufer zurück: China hat mit Jahresbeginn seine Zero-Corona-Politik beendet. Das Wirtschaftswachstum in der Volksrepublik bleibt zwar moderat, seit dem Frühjahr importiert China aber wieder mehr Gas.

Der Standard

Wie also gelang das Kunststück mit den niedrigen Preisen? Wer Experten befragt, bekommt eine klare Antwort: Trotz Warnungen vor einer Gasknappheit war und ist das Angebot mehr als ausreichend.

Der weltweit tätige Energie-Informationsdienstleister Rystad Energy analysierte Mitte Juni die Ursachen für die niedrigen Preise: Das Angebot von LNG (Liquefied Natural Gas, verflüssigtes Erdgas) aus den USA, Norwegen und anderen Ländern hat mit verbliebenen Lieferungen aus Russland nicht nur gereicht, um Europa zu versorgen. Die Gasspeicher sind für die Jahreszeit sehr gut gefüllt, was für den kommenden Winter wichtig ist.

Speicher gut gefüllt

EU-weit sind die Speicher im Schnitt bereits zu 74 Prozent gefüllt, vor einem Jahr waren es 20 Prozentpunkte weniger. Noch entspannter stellt sich die Situation in Österreich dar: Die Speicher, die gemessen am Inlandsverbrauch zu den größten in Europa zählen, sind zu 80 Prozent voll, vor einem Jahr war nicht einmal die Hälfte dieser Menge noch eingespeichert.

Auch in Industrieländern außerhalb Europas wie in Japan oder Südkorea sind die Speicher voll. Ein ähnliches Bild in den USA: Das zweitgrößte LNG-Terminal des Landes in Freeport, Texas, musste im Juni 2022 nach einem Feuer schließen. Die Anlage arbeitet wieder. Viel Gas, das ansonsten exportiert worden wäre, blieb in den USA und ging in die Speicher, deren Füllstand zu einem Fünftel über dem Schnitt der vergangenen fünf Jahre liegt. Das und ein Winter ohne große Kälteeinbrüche sorgte für bisher anhaltenden Preisrückgang. Rystad spricht deshalb sogar von einem "Überangebot" am LNG-Markt.

Tiefere Preise bis 2030

Die große Frage ist, ob das so bleiben wird – und was die Folgen wären. Für Europas Industrie und Haushalte mögen niedrige Gaspreise gut sein. Für den Klimaschutz nicht. Das Energiewirtschaftliche Institut in Köln hat vor einigen Monaten eine Analyse der langfristigen Preisentwicklung vorgelegt. Verschiedene Szenarien wurden modelliert, abhängig davon, wie viel russisches Gas noch kommen wird und wie schnell der Ausbau von LNG-Kapazitäten voranschreitet. Läuft alles rund, erwarten die Experten zwar bis 2026 einen etwas erhöhten Gaspreis in Europa, der aber 2030 auf etwa 20 Euro je MWh gesunken sein wird. So viel kostete Gas schon 2018. Einiges spricht dafür, dass dieses Szenario realistisch ist: Die weltweiten Produktionskapazitäten für Gas liegen bei 4000 Milliarde m3 und werden bis 2030 auf 4500 Milliarden steigen, heißt es in der Studie.

Inzwischen wurden auch die Ausbaupläne für LNG-Terminals erweitert, vor allem in den USA, das neben Katar, Russland und Australien eines der großen Exportländer ist. Das gilt auch für die Infrastruktur, um Gas zu transportieren: Allein Katar hat im Vorjahr 60 LNG-Tanker bestellt, 2022 sind für diese Schiffe weltweit so viele Aufträge eingegangen wie nie zuvor.

Warnende Stimmen

Aber es gibt Stimmen, die davor warnen, mit niedrigen Gaspreisen zu rechnen. Zunächst haben sich schon die Perspektiven verschoben. Im Juni ist der Gaspreis um fast 50 Prozent gestiegen wegen der Probleme in Norwegen. Schlagzeilen gab es kaum, weil die Entwicklung im Vergleich zu den Mega-Ausschlägen 2022 immer noch moderat aussieht, sagt ein österreichischer Energiemarktexperte. Dass Europa so viel Gas einsparen konnte, lag zu einem Gutteil am milden Wetter. Ein kühlerer Winter, und es könnte anders aussehen.

Helen Thompson von der Cambridge University erwähnt im Gespräch mit dem STANDARD noch einen anderen Punkt. "Das meiste LNG wird im Golf von Mexiko verschifft. Die Hurrikansaison im September wird zeigen, wie beeinträchtigt der Export dann sein wird." All diese Faktoren seien preisrelevant, sagt die Energieexpertin.

Weil auch ungewiss ist, ob die Ausbaugeschwindigkeit bei den LNG-Kapazitäten weiter hoch bleiben wird, kommt eine zusätzliche Risikoquelle ins Spiel. So kommt das Energieinstitut in Köln in der erwähnten Simulation zum Ergebnis, dass der Gaspreis 2030 auch weit über 100 Euro je Megawattstunde liegen kann, wenn eben nicht alles rundläuft und der Verbrauch anhaltend hoch bleibt bei Versorgungsengpässen – inklusive aller Vor- und Nachteile für Klima und Industrie.

(Günther Strobl, András Szigetvari, 21.6.2023)