Željko Komšić, eines von drei Mitgliedern des bosnischen Staatspräsidiums, fordert einen Bürgerstaat für Bosnien-Herzegowina. Er wird vor allem von Menschen gewählt, die die Gleichberechtigung aller Bürger wünschen und keinen Ethnonationalismus. Kritik an ihm wird vor allem von der kroatisch-nationalistischen HDZ laut, die lieber einen ihrer Parteigänger in dem hohen Amt sehen würde. Im Interview mit dem STANDARD erklärt er seine Sicht der Dinge.

STANDARD: Einige Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sind noch immer nicht umgesetzt. Für welche Art der Umsetzung wären Sie?

Komšić: Die Urteile zu Dervo Sejdić und Jakob Finci können im Rahmen der Verfassung, die wir jetzt haben, umgesetzt werden, aber nicht jenes im Fall Zornić (DER STANDARD berichtete, Anm). Denn das Urteil im Fall Zornić macht das gesamte Konzept der Verfassung zunichte. Mit rechtlicher Akrobatik könnte man vieles schaffen. Das ist aber nicht das Ziel. Ziel ist es, dass alle Menschen in der Verfassung gleichgestellt werden.

Mit so einer undemokratischen und diskriminierenden Dayton-Verfassung können wir nie Mitglied der EU werden. Niemand wagt das offen zu sagen, und die Menschen werden ständig belogen. Man muss den Leuten deshalb die Frage stellen: Was möchtet ihr? Möchtet ihr weiter so euer Leben führen? Wenn das so ist, dann müssen wir aber die Europäische Union vergessen. Das ist keine Frage, die man an die internationale Gemeinschaft richten soll. Das müssen wir entscheiden! 

Željko Komšić
Željko Komšić ist der bosnisch-kroatische Vertreter im dreiköpfigen Staatspräsidium.
REUTERS/Dado Ruvic

STANDARD: Es gibt starke Kräfte in Bosnien und Herzegowina, die gar keinen EU-Beitritt wollen.

Komšić: Ja, weil vielen die chaotische Lage dient. Sie erlauben den Menschen hier nicht, sich durch ihre Werte oder ihre Arbeit zu beweisen, wie dies in einem normalen Staat sein sollte, sondern sie verlangen von ihnen vor allem, dass sie sich als Bosniaken, Serben oder Kroaten erklären und dass sie Mitglieder von ethnonationalen Parteien sind, damit ihr Leben leichter wird. Eigentlich müsste es jedoch darum gehen, ob wir fleißig, ehrlich, klug und gebildet sind, aber nicht, dass die Menschen an einem Wettbewerb teilnehmen müssen, wer ein größerer Serbe oder Kroate oder Bosniake ist.

STANDARD: Der Hohe Repräsentant Christian Schmidt hat voriges Jahr im Sinne der kroatisch-nationalistischen Partei HDZ Änderungen des Wahlrechts und der Verfassung der Föderation gemacht und dieses Jahr auch noch durch seine Entscheidungen eine Regierung eingesetzt, die auf demokratischem Wege nicht ins Amt gekommen wäre. Welche langfristigen Auswirkungen haben Schmidts Entscheidungen?

Komšić: Herr Schmidt ist ein ganz merkwürdiger Mensch. Ich würde ihn als einen Elefanten in einem Porzellanladen beschreiben. Das Schlimmste ist: Es erscheint ihm sogar egal zu sein, was er alles in Bosnien-Herzegowina kaputt macht. Leider sind seine Reaktionen leicht hysterisch, wenn man ihn auf seine Fehler hinweist. Offensichtlich gibt es ein Problem in seiner Persönlichkeitsstruktur.

In meinem ersten Gespräch habe ich ihm vorgeschlagen, die 14 Reformvorschläge der Europäischen Kommission als seine Agenda zu übernehmen. Er wollte das aber nicht, oder er hat vielleicht nicht verstanden, was ich ihm gesagt habe. Anfangs wirkten seine Entscheidungen etwas naiv, aber die Folgen sind schrecklich. Eine Suspendierung der Verfassung für einen Tag etwa hat man in der gesamten demokratischen Welt noch nie gesehen. Nicht einmal Putin würde das einfallen, aber Schmidt hat das tatsächlich gemacht. Wenn ich, als ich Jus studierte, so einen Vorschlag gemacht hätte, hätten die Professoren mich aus der Universität geworfen und hätten mir nie mehr erlaubt, zum Jusstudium zugelassen zu werden.

Er hat zahlreiche Fehler gemacht. Zunächst hat er gedacht, dass er das Wahlgesetz zugunsten der HDZ gelöst hat. Dann hat sich herausgestellt, dass das nicht so war. Deshalb hat er panisch eine neue Entscheidung aufgedrängt. Aber er hat wieder einen Fehler gemacht, weil seine Entscheidung sich in vier Jahren gegen die Interessen der HDZ auswirken kann. Er hat nicht nur jedes demokratische Prinzip verletzt, er hat auch gezeigt, dass er nicht darüber nachdenkt, was die Folgen sein werden.

Aber am schlimmsten ist, dass die Beziehungen zwischen den Volksgruppen nach seinen Entscheidungen nur schlechter geworden sind. Also, entweder er ist ein Amateur in seinem Beruf, oder er ist ein Mensch mit schlechten Absichten. Meine Erfahrung ist, dass die Menschen, die in der Politik tätig sind, sehr intelligente Menschen sind und auch manchmal in dieser Intelligenz sehr gefährlich sein können. Herr Schmidt ist auch ein Politiker, ich kann mir also nicht vorstellen, dass er ein Amateur ist, also denke ich, dass er schlechte Absichten hat.

STANDARD: Die USA haben einen enormen Einfluss auf Herrn Schmidt. Auf welchen Prämissen beruht denn die Politik der USA?

Komšić: Schmidt führt alles durch, was die amerikanische Botschaft in Sarajevo von ihm verlangt. Tatsache ist, dass die Umkehr der Politik der USA in der gesamten Region nicht mit dieser US-Regierung angefangen hat, sondern mit Trumps Regierung und den Gesandten Matthew Palmer und Richard Grenell. Wir hatten schon 2017 Gespräche über das Wahlgesetz und die Verfassung. Doch mit dieser neuen US-Regierung ist es nun zu einem heftigen Druck gekommen, dass die Sachen so verwirklicht werden, wie man sich das ausgedacht hat. Ich glaube nicht, dass der US-Außenminister Anthony Blinken wirklich Kenntnis davon hat, was hier geschieht. Sein Berater Derek Chollet führt das durch. Er betrachtet sich nämlich als Experten für Bosnien-Herzegowina.

Die Amerikaner wollen die vermeintliche Stabilität in der Region auf drei Schwerpunkten aufbauen, sie setzen auf Albanien, Serbien und Kroatien. Sie haben ihren Ansatz völlig umgedreht. Von der Position der Befürworter der Menschenrechte, des Rechtsstaats und der freien Medien haben sie sich distanziert. Sie kehren zu der Art und Weise, wie der US-Außenpolitiker Henry Kissinger die Dinge früher verwaltet hat, zurück.

In der Praxis heißt das, dass sie jene zufriedenstellen, die die Vertreter der drei großen Nationalismen auf dem Balkan sind. In Serbien ist das Präsident Aleksandar Vučić und die Idee von einer "serbischen Welt" und dem "offenen Balkan", und in Albanien Premier Edi Rama mit der Idee von Großalbanien, und in Kroatien ist das die Partei HDZ mit einem kleineren Großkroatien. Und Kosovo, Montenegro, Nordmazedonien und Bosnien-Herzegowina sollen den Preis dafür bezahlen. Natürlich nimmt das der kosovarische Premier Albin Kurti nicht so hin. Die Menschen in Montenegro und in Bosnien-Herzegowina nehmen das auch nicht einfach so hin. Also werden die, die das ablehnen, unter Druck gesetzt. Aber das sind ausgerechnet jene Politiker, die aufrichtig an die Demokratie und an die westlichen Werte glauben, die die loyalsten Verbündeten der Vereinigten Staaten von Amerika waren.

Ich habe deshalb den amerikanischen Botschafter gefragt: Warum, bitte, wollen Sie Freunde verlieren, auch wenn Sie gar keine neuen erhalten? Aber das ist offensichtlich nicht wichtig. Jemand hatte offenbar die naive Vorstellung in Washington: Kroatien ist sowieso bei der EU und Nato, und Edi Rama ist auch ein geprüfter, fester Verbündeter von Washington. Jetzt lass uns mal Serbien aus den Armen Russlands herausziehen, indem wir Vučić entgegenkommen! Aber das ist sehr naiv.

STANDARD: Es sieht danach aus, dass die USA ein altes hegemoniales Denken beleben. Dieses Denken in ethnisch definierten Einflusszonen gab es bereits in den 1990er-Jahren, und die amerikanischen Diplomaten wie Chollet, die jetzt zuständig sind, waren bereits in den 1990ern auf dem Balkan. Hat die Umkehr der USA damit zu tun?

Komšić: Es ist ganz sicher eine anachronistische Politik, das sind alte Schablonen, obwohl sich die ganze Welt, Europa sich geändert hat. Auch hier in Bosnien-Herzegowina hat sich alles geändert. Das Einzige, was gleich geblieben ist, sind die Spuren und Wunden des Krieges. Diese Politik ist jedenfalls auf vollkommen falschen Grundlagen aufgebaut. Es ist auch sehr merkwürdig, dass Gabriel Escobar, der US-Gesandte für den Balkan, die gleichen Sätze sagt wie der russische Botschafter in Bosnien-Herzegowina. Wie kann es sein, dass sich die beiden auf derselben Grundlage eingefunden haben?

STANDARD: Was könnte das alles mit dem Krieg gegen die Ukraine zu tun haben?

Komšić: Das hat alles vor dem Krieg gegen die Ukraine begonnen. Wenn es also wirklich ein Versuch wäre, Serbien aus den Armen Russlands herauszureißen, könnte man irgendeine Logik darin finden, aber es hat ja viel früher begonnen. Es gibt demnach viele Fragezeichen.

STANDARD: Was ist die Rolle der EU in diesem ganzen Kontext?

Komšić: Die EU setzt sich immer ein bisschen zur Wehr gegenüber den Amerikanern, aber letzten Endes beugt sie sich immer. Ich erwarte nichts Spektakuläres von der EU. Wenn es um das Verhältnis zwischen der EU und den USA geht, habe ich manchmal den Eindruck, dass Brüssel katholischer ist als der Papst. Jetzt droht der EU-Außenbeauftragte Josep Borell voreilig mit Sanktionen gegen Kurti, nur um zu zeigen, dass man nicht auf die Amerikaner wartet, die dasselbe tun wollen.

Doch sie machen alle einen Fehler. Denn Kurti ist nicht korrupt, und man kann ihn nicht erpressen. Mit ihm muss man anders reden. Der ehemalige US-Gesandte unter Präsident Donald Trump, Richard Grenell, hat Kurti einmal abgesetzt, aber Kurti kam mit einem noch viel besseren Wahlergebnis zurück. Warum denken diese Diplomaten, dass Kurti keine Unterstützung von den Menschen im Kosovo bekommt? Sie können ihm keine Angst einjagen. Sie beauftragten nun den albanischen Premier Edi Rama, das Statut für den Verband der serbischen Gemeinden im Kosovo auszuarbeiten. Kurti hat Rama gut geantwortet: Geben Sie das Statut Vučić, damit er das für die albanischen Gemeinden im Preševo-Tal in Serbien umsetzt.

Ich verstehe nicht, weshalb Brüssel und Washington so voreilige, so nervöse und unvorsichtige Schritte unternehmen. Es gibt einfach Menschen, die nicht nachgeben, es sei denn, die Amerikaner überzeugen sie. Die Amerikaner können diese Leute auch physisch irgendwo beiseiteschieben, aber die Ideen dieser Leute bleiben trotzdem unter den Menschen. Das können sich nicht abwürgen. Deswegen ist es so wichtig, dass man herausfindet, was die Bevölkerung wirklich empfindet und denkt.

STANDARD: Mir hat kürzlich ein Bosnier erzählt dass er sich nicht vorstellen kann, dass Herr Schmidt ein Deutscher sei. Er sagte: Die Deutschen würden die Muslime nicht hassen. Werden die Entscheidungen von Schmidt in Bosnien als Muslimenfeindlichkeit aufgefasst?

Komšić: Es gibt Muslimenfeindlichkeit in ganz Europa, aber wenn es um Herrn Schmidt geht, so würde ich eher sagen, dass er eigentlich gegen Bosnien-Herzegowina arbeitet. Seine Entscheidungen sind von außen instruiert, aber in der Essenz sind sie gegen Bosnien-Herzegowina gerichtet. Wenn es um Muslimenfeindlichkeit geht, dann sollte das für ganz Europa und nicht nur für Menschen aus diesem Teil Europas interessant sein. Aber wir haben in Europa leider keine Persönlichkeiten mit großen Ideen mehr. Europa geht auseinander, die Nähte lösen sich auf.

STANDARD: Der deutsche Bundestag hat im Vorjahr eine Bosnien-Resolution beschlossen. Darin ging es um die Stärkung des Bürgerstaats. Unterstützt die deutsche Regierung nun genau das Gegenteil?

Komšić: Es gibt auch in Deutschland Widerstand gegen die Politik von Schmidt. Ich bin sogar der Meinung, dass viele Menschen in Berlin nicht mögen, was er hier derzeit macht. Die Bundestagsresolution wird aber tatsächlich von den deutschen Diplomaten nicht umgesetzt. Vielleicht denken sie, dass das nicht so wichtig sei. Schmidt ist jedenfalls ein deutscher Politiker. Ich erwarte nicht, dass sich Berlin von ihm distanziert. Wir wissen das, und deshalb erwarten wir nicht sehr viel von Berlin.

STANDARD: Kürzlich wurden zum ersten Mal frühere Vertreter des serbischen Staates unter Slobodan Milošević, Jovica Stanišić und Franko Simatović für Kriegsverbrechen in Bosnien-Herzegowina verurteilt. Oberstaatsanwalt Serge Brammertz betonte, das Urteil bekräftige, dass es in Bosnien und Herzegowina keinen Bürgerkrieg, sondern einen internationalen Konflikt gegeben habe. Was bedeutet dieses Urteil?

Komšić: Das ist für uns nur eine Bestätigung für das, was wir ja schon vorher wussten. Ich habe die Zeit des gesamten Krieges hier verbracht. Ich habe die roten Barrette (damalige paramilitärische Spezialeinheit des serbischen Staates, Anm.) mit meinen eigenen Augen hier gesehen. Ich schätze aber sehr, dass das Gericht den Mut gefunden hat zu bestätigen, dass sie hier waren, Menschen ermordet haben und an diesem Krieg teilgenommen haben.

Wir versuchen sowohl Serbien als auch Kroatien mitzuteilen: Ja, wir können gemeinsam eine neue Zukunft bauen, aber wirklich nur auf gleichberechtigter Grundlage. Wir müssen zusammenarbeiten, denn wir bewohnen denselben Raum, und wir sind aufeinander angewiesen. Wir sprechen dieselbe Sprache, wir verstehen uns doch. Wir haben aber das Recht zu sagen: Sie haben uns angegriffen, und nicht wir sie. Sie wollten unser Land zerstören, und nicht wir ihre Länder. Wir haben uns einmal verteidigt, und wir werden uns immer verteidigen. Denn wir haben nichts anderes als dieses Land Bosnien-Herzgowina. Und wir stellen für niemanden eine Gefahr oder Bedrohung dar. Wir können als gute Nachbarn unsere Probleme gemeinsam lösen. Aber wenn sie wieder versuchen, uns das Land zu nehmen, wird das zum selben Ergebnis führen. Das ist alles, was wir von Belgrad und Zagreb erwarten, dass sie das verstehen, dann wird alles viel leichter sein. (Adelheid Wölfl, 23.6.2023)