Fast Food wie Burger, Pizza, Hot Dogs und Donuts vor weißem Hintergrund
Burger, Donuts, Hot Dogs, Cookies & Co: All diese Produkte bestehen aus denselben wenigen Zutaten – gemixt mit künstlichen Aromen, die uns süchtig machen sollen.
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Sie würden sich gerne gesünder ernähren, scheitern aber immer wieder an dem Vorsatz? Es liegt nicht an Ihnen, es liegt am Essen, sagt Chris van Tulleken. Der britische Arzt und Professor am University College London ist auf Infektionskrankheiten spezialisiert und hat lange erforscht, wie sich Viren weiterentwickeln. Als er vor etwa zehn Jahren in einkommensschwachen Ländern wie Pakistan oder Myanmar kranke Kinder behandelte, fiel ihm auf: Die allermeisten ihrer Infektionen waren auf mangelhafte Ernährung zurückzuführen. Den Eltern dort sei Milchpulver als hochwertiges Produkt aus dem Westen verkauft worden, erinnert er sich. Dieses sei aber mit einer Vielzahl an Zusatzstoffen versetzt gewesen. Am Ende seien viele Kinder gestorben. Wie konnte das sein?

Von da an waren nicht mehr Viren, sondern Nahrungsmittelkonzerne sein Forschungsgegenstand. "Die funktionieren ähnlich wie Viren oder andere Parasiten. Sie machen uns krank", sagt er. Jetzt hat er ein Buch geschrieben, um genau darüber aufzuklären. Es geht darin vor allem um "ultraverarbeitete Lebensmittel", wie er jene Produkte nennt, die mit zahlreichen Stabilisatoren, Süßstoffen und Aromen versetzt und uns als Nahrung verkauft werden. Ihr Verzehr wird mit Darmerkrankungen, Typ-2-Diabetes, Demenz, Adipositas, Angstzuständen, Depressionen, zahlreichen Krebsarten und frühzeitigem Tod in Verbindung gebracht.

STANDARD: Sie sagen, wir müssen Lebensmittelkonzerne neu denken. Was meinen Sie damit?

Van Tulleken: Die meisten glauben, diese Konzerne seien dazu da, uns mit Nahrung zu versorgen. Aber tatsächlich existieren sie nur, um ihre Profite zu steigern, genauso wie Pharma-, Glücksspiel-, Auto- oder Ölfirmen. Der einzige Unterschied ist, dass Lebensmittelkonzerne sich eben auf das spezialisiert haben, was wir Lebensmittel nennen. Aber womöglich sollten wir sie nicht als solche bezeichnen. Die Konzerne stellen mit den billigstmöglichen Zutaten süchtigmachende Substanzen her, um uns Geld abzuknöpfen, und reden uns über Werbung und Marketing ein, dass es sich dabei um echte Lebensmittel handelt.

STANDARD: Wie funktioniert das konkret?

Van Tulleken: Wir können uns theoretisch heute besser ernähren als je zuvor. Wir können zu Weihnachten eine Mango essen, haben in nahezu jedem Supermarkt mehrere Sorten wilden Reis zur Auswahl und können Bio-Rindfleisch kaufen. Aber das ist nicht das, was die meisten Menschen essen. Die meisten unserer Kalorien stammen von einer sehr kleinen Anzahl von Tieren und Pflanzen, darunter Soja, Weizen, Reis und Mais. Diese Pflanzen werden verarbeitet, die grundlegenden Moleküle wie Proteine, Kohlenhydrate und Fette werden extrahiert. Danach können sie in jeder gewünschten Form und Textur wieder zusammengesetzt werden, als Pizza, Donut, Brot, Frühstücksmüsli und so weiter. Alles besteht im Großen und Ganzen aus denselben Pflanzen, alternativ mit etwas Fleisch, Salz, Zucker, Aromastoffen und Emulgatoren.

Konzerne verdienen nur mit extrem verarbeiteten Lebensmitteln Geld. Und sie müssen Gewinne für ihre Eigentümer erzielen. Also müssen sie süchtigmachende Produkte aus billigen Zutaten herstellen und jährlich mehr davon verkaufen. Produkte wie Pringles, Schoko-Pops, Cola oder Burger werden deshalb immer wieder subtil umformuliert, um uns noch süchtiger zu machen. In Fokusgruppen wird unter anderem gemessen, wie viel die Leute von den Produkten essen. Die Konzerne probieren ständig neue Tricks: das Brötchen im Burger ein bisschen salziger machen, mehr Aroma hinzufügen oder etwas Zucker in den Pizzateig mischen. Wenn die Testpersonen dadurch mehr essen, wird die Veränderung umgesetzt. Das sind die Lebensmittel, die auf dem Markt überleben.

STANDARDWarum wollen wir immer mehr von diesen Produkten?

Van Tulleken: Weil der Suchtfaktor dieser Produkte enorm hoch ist. Nicht jeder wird von allem süchtig. Ich habe etwa auch schon viel Alkohol probiert und Zigaretten geraucht, ohne süchtig davon zu werden. Bei hochverarbeiteten Lebensmitteln werden etwa 50 Prozent der Menschen süchtig. Sie machen süchtiger als Heroin oder Zigaretten.

Warum diese Sucht entsteht, ist in der Forschung nicht ganz klar. Die Lebensmittelkonzerne wissen wahrscheinlich mehr dazu, aber wir haben nur Anhaltspunkte. Einer davon ist, dass Nährstoffe wie Fett, Salz und Zucker bei solchen Produkten sehr schnell in den Darm transportiert werden. Und wir wissen, dass die schnelle Aufnahme von Nährstoffen süchtig macht. Deshalb macht auch harter Alkohol mehr süchtig als ein Radler und Zigaretten eher als Kautabak.

STANDARDEs ist also nicht der Geschmack das Hauptproblem?

Van Tulleken: Nein, der ist nur ein Teil. Niemand wird süchtig nach einer Mischung aus Pflanzenöl und Zucker. Aber wenn man noch Emulgatoren, Aromen und eine Prise Salz dazumischt, das Ganze zu Schaum aufschlägt und es Eiscreme nennt, werden die Leute süchtig. Im Großen und Ganzen geht es also um ein bestimmtes Verhältnis von Fetten, Zucker und Salz sowie künstlichen Aromen. Und das wird dann mit viel Marketing unter die Leute gebracht.

Es hat nämlich viel damit zu tun, was wir mit den Produkten assoziieren. Wer sich mit Whisky einmal so betrunken hat, dass er oder sie sich übergeben musste, wird danach wahrscheinlich keinen Whisky mehr trinken wollen. Das Gehirn hat eine Verbindung zwischen dem Geschmack und dem Erbrechen hergestellt. Dasselbe passiert auch in umgekehrter Richtung: Wenn man etwas zum ersten Mal probiert und man dabei mit einer Menge Zucker belohnt wird, verbinden wir diese Erfahrung mit dem künstlich aromatisierten Geschmacksprofil. Das Gehirn stellt eine Verbindung her zwischen dem Geschmacksprofil des Colas, der Belohnung in Form von Zucker und der glänzenden roten Werbung, die man im Fernsehen gesehen hat. Es also ist ein ganzes Paket, nach dem man süchtig wird.

STANDARDLassen sich Profitgier und eine gesunde Bevölkerung miteinander vereinbaren?

Van Tulleken: Ich denke schon. Ich bin kein Antikapitalist, aber ich glaube, dass der Markt sehr, sehr gut reguliert sein muss. Im Moment werden wir von Unternehmen regiert, die wir nicht gewählt haben und die unseren Planeten verschmutzen. Wir alle sind Teil eines großen Experiments, für das wir uns nie freiwillig gemeldet haben. Wir verkosten all diese neuen, seltsamen Kombinationen von Molekülen und tragen das gesamte Risiko, während die Unternehmen den ganzen Nutzen aus dem Experiment ziehen. Ich denke, dass die Menschen von ihren Regierungen davor geschützt werden sollten. Der freie Markt wird letztlich nur Monopole schaffen, die uns mit süchtigmachendem Müll versorgen. Unternehmen wie Pepsi, Heinz, Coca-Cola oder Nestlé stellen zwar ein etwas anderes Produkt her, aber sie sind im Grunde keinen Deut besser als die Tabakindustrie. Und deshalb müssen sie reguliert werden.

Für die Pharmaindustrie wurden um die Jahrtausendwende gesetzliche Regulierungen geschaffen. Meiner Meinung nach ist das nicht streng genug passiert. Aber wesentlich ist, dass das die Branche nicht am Wachstum gehindert hat, im Gegenteil, sie ist hochprofitabel. Und auch die Lebensmittelindustrie könnte trotz möglicher Einschränkungen finanziell wachsen.

Porträtfoto vom Arzt und Autor Chris Van Tulleken vor weißem Hintergrund
"Wir sind alle Teil eines Experiments, dem wir nicht zugestimmt haben", kritisiert Chris van Tulleken.
Will Corder

STANDARDWelche Maßnahmen wären sinnvoll?

Van Tulleken: Man müsste das Marketing und die Werbung einschränken. Kinder und Jugendliche bekommen auf allen Kanälen, in allen Apps, in allen Handyspielen, auf allen Plakatwänden Werbung für Firmen wie McDonald's. Das muss aufhören. Unternehmen sollten süchtigmachenden Müll wie Müsli aus Puffreis, Maissirup und künstlichen Aromastoffen nicht mit Comicfiguren an Kinder vermarkten dürfen. Und das sollte kein Essen sein, das in Kindergärten und Schulen auf den Tisch kommt.

Ich will diese Lebensmittel nicht verbieten. Ich denke, Menschen haben ein Recht darauf, beschissenes Zeug zu essen, wenn sie das wirklich wollen. Aber sie haben auch ein Recht auf Informationen. Ich glaube, die meisten würden sich dann dagegen entscheiden. Ich würde nicht einmal den Zucker besteuern, wie manche Fachleute das fordern. Aber ich würde echte Lebensmittel erschwinglicher und besser verfügbar machen. Hochverarbeitete Lebensmittel sind ja für viele Menschen die einzige leistbare Nahrung. Reiche Menschen essen deutlich weniger davon.

Außerdem dürften Ärzte, Wissenschafterinnen und politische Entscheidungsträger kein Geld von diesen Unternehmen annehmen. Auch wenn es verlockend ist, ich lehne jährlich gut eine Viertelmillion Euro ab, um nicht mit der Lebensmittelindustrie zusammenarbeiten zu müssen. Aber ich schlafe bei Konferenzen lieber in schäbigen Hotels und zahle mir meine Flüge selbst, statt ihr Geld anzunehmen. Ich finde, es muss etwas Beschämendes werden, mit solchen Konzernen zu arbeiten. So wie bei der Tabakindustrie, da haben auch irgendwann alle gesagt: Wir lehnen euer Geld ab.

STANDARD: Warum werden solche Maßnahmen nicht umgesetzt?

Van Tulleken: Weil eine sehr kleine Anzahl von mächtigen Entscheidungsträgern und Konzernen kein Interesse daran hat, das System zu ändern. Konzerne wie Nestlé haben Einnahmen, die größer sind als das BIP der meisten Länder der Erde. Sie sind unglaublich mächtig und finanzieren mit ihren Geldern jene politischen Parteien, die ihnen keine Regulierungen aufs Auge drücken und es ihnen ermöglichen, weiter Geld zu scheffeln. Oft passiert das auch über die Hintertür. Danone, Pepsi, Nestlé & Co finanzieren dann eben Berufsverbände und Thinktanks, von denen sich die Regierungen beraten lassen.

STANDARDAber eine gesunde Gesellschaft hätte doch auch ökonomische Vorteile. Eine kranke Bevölkerung kommt den Staat teurer als eine gesunde.

Van Tulleken: Ja, aber den Nutzen von regulierenden Maßnahmen würde man erst in etwa 20 Jahren sehen. Und Politiker haben meist wenig Interesse an langfristigen Investitionen in die Gesundheit der Bevölkerung. Warum sollten sie das Geld von heute für ein Problem ausgeben, das sie als Minister oder Kanzler nicht mehr betreffen wird? Auch den Entscheidungsträgern der Lebensmittelindustrie geht es nicht um die nächsten Jahrzehnte, es geht immer nur um das nächste Quartal. Hauptsache, die Gewinne sind noch höher als im vergangenen Quartal. Der CEO von Coca-Cola wird in fünf Jahren nicht mehr der CEO von Coca-Cola sein. Der hat sich dann längst auf eine Yacht zurückgezogen.

Langfristig sind die Unternehmen ziemlich fragil aufgestellt. Ihre Belegschaft wird immer häufiger krank werden, und ich denke, dass sich die Leute von ihren Produkten abwenden werden. Firmen wie Coca-Cola haben dann keine Ausweichmöglichkeiten, weil ihr gesamtes Portfolio Schrott ist. Und mein Buch ist, wenn es viele Menschen lesen, eine echte Bedrohung für diese Unternehmen.

Türkisfarbenes Buchcover von
In "Gefährlich lecker" zeigt van Tulleken, wie sich hochverarbeitete Lebensmittel auf unseren Körper auswirken. Heyne-Verlag, 416 Seiten, 24,70 Euro
Heyne Verlag

STANDARD: Statt struktureller Veränderungen wird das Problem oft mit Ratschlägen wie "Essen Sie gesünder, bewegen Sie sich mehr" individualisiert.

Van Tulleken: Genau. Die Lebensmittelindustrie hat uns erfolgreich eingeredet, dass wir eine Wahl haben und dass wir, wenn wir immer dicker werden, bloß eine schlechte Wahl getroffen hätten. Dabei ist es gar nicht unsere Entscheidung. Ein Beispiel: Wenn ich verreise, zähle ich gerne mit, wie viele Gelegenheiten ich von der Ankunft am einen Flughafen bis zum Verlassen des anderen Flughafens habe, um mir ein Cola zu kaufen. Es sind immer deutlich mehr als hundert. Cola gibt es in Automaten, in jedem Geschäft an der Kasse, sogar im Flugzeug selbst. Wenn jemand also versucht, mit dem Trinken von Coca-Cola aufzuhören, ist das fast unmöglich. Dieses Suchtmittel befindet sich ständig direkt vor der Nase.

Die meisten Menschen wollen ein gesundes Leben führen und versuchen das auch. Aber Coca-Cola etwa hat vielen von uns erfolgreich eingetrichtert, dass Sport beim Abnehmen hilft. Die Softdrink-Industrie, insbesondere Coca-Cola, hat hunderte wissenschaftliche Forschungsarbeiten finanziert, um die Nachricht zu verbreiten, dass man nur durch Bewegung abnehmen kann. Und das ist, wie wir wissen, eine Lüge. 

STANDARD: Wie kann man dennoch von hochverarbeiteten Lebensmitteln wegkommen?

Van Tulleken: Mein Buch enthält eine simple Einladung an alle Leserinnen und Leser, die sich süchtig fühlen: Essen Sie, während Sie lesen. Und vielleicht werden Sie am Ende des Buches feststellen, dass Sie dieses Essen einfach nicht mehr wollen. Viele Leute merken, sobald sie anfangen, das Zeug bewusst zu kauen und es zu inspizieren: Oh, das ist ja gar kein richtiges Essen. Mein Getränk ist eine Mischung aus künstlichen Farbstoffen und künstlichen Aromen, und mein Erdbeerjoghurt ist voll mit modifizierter Maisstärke und hat noch nie eine Erdbeere gesehen.

Aber gesunde Ernährung kostet Geld und Zeit. Man braucht Küchenutensilien, eine Gefriertruhe, Tupperboxen, Zeit zum Vorkochen und so weiter. Lange Zeit wurde diese Arbeit von Frauen erledigt. Die hochverarbeiteten Lebensmittel hatten also auch Vorteile, weil sie den Frauen den Weg in die Arbeitswelt erleichterten.

STANDARD: Aktuell kommen immer mehr vegane hochverarbeitete Lebensmittel wie vegane Nuggets oder vegane Burger auf den Markt. Ist das eine neue Strategie der Lebensmittelindustrie?

Van Tulleken: Konzerne wollen allen Menschen unabhängig vom Ernährungsstil Essen verkaufen. Oft sind deshalb die Unternehmen, die eine vegane Wurst herstellen, auch jene, die Schweine züchten. Dadurch entsteht ein Konflikt, weil wir alle weniger Fleisch essen sollten. Unabhängig davon, dass es keinen Beweis dafür gibt, dass vegane hochverarbeitete Lebensmittel gesünder sind als Fleisch.

STANDARD: Verändern sich die Einstellung und das Wissen der Menschen zu hochverarbeiteten Lebensmitteln? Haben Sie Hoffnung?

Van Tulleken: Ja, immer mehr Menschen fühlen sich von Lebensmittelkonzernen verarscht und wollen sich und ihre Kinder vor dieser Industrie schützen. Die Einzigen, die anderer Meinung sind, sind jene Leute, die von der Lebensmittelindustrie finanziert werden. (Magdalena Pötsch, 25.6.2023)