Rollte der Militärkonvoi des Söldnerchefs und Kriegsverbrechers Jewgeni Prigoschin noch vor 24 Stunden fast unaufhaltsam auf Moskau zu, der Herzkammer der russischen Macht, darf Kremlchef Wladimir Putin am Sonntag erst einmal durchatmen. Der Putsch ist vorerst abgesagt. Der Innsbrucker Politologe Gerhard Mangott sieht darin aber höchstes eine Vertagung des Konflikts, keine Lösung, wie er im STANDARD-Interview erklärt.

Gerhard Mangott ist Politikwissenschaftler in Innsbruck
STANDARD/Corn

STANDARD: Anstatt mit seinen Kämpfern in Moskau einzumarschieren und wie angekündigt "alles zu zerstören", dürfte sich Jewgeni Prigoschin nun sang- und klanglos nach Belarus abgesetzt haben. Hat sich der Wagner-Boss mit seinem Marsch auf Moskau kolossal verspekuliert?

Mangott: Für Prigoschin dürfte klar gewesen sein, dass sein militärisches Abenteuer nur dann eine Chance hat, wenn sich jemand mit ihm solidarisiert. Das ist völlig ausgeblieben. Selbst General Sergej Surowikin, der stellvertretende Verteidigungsminister, der Prigoschin sehr nahesteht, hat sich gestern von ihm distanziert.

Prigoschin hätte natürlich weiter in Richtung Moskau marschieren können, politisch hat er diesen Staatsstreich da aber schon verloren gehabt und hat wohl nach einem Ausweg gesucht. Putin hat sich auf diese vorläufige Lösung eingelassen, weil auch ihm gestern klar geworden sein muss, dass viele rund um ihn auffällig still geblieben sind. Die Chefs der mächtigen Geheimdienste etwa haben den ganzen Tag über nichts gesagt, was Putin wohl verdeutlich hat, wie dünn das Eis ist, auf dem er sich bewegt. 

Der Fernsehauftritt Wladimir Putins, hier in einer Wohnung in St. Petersburg auf dem Bildschirm.
IMAGO/ZUMA Wire

STANDARD: Ist der Konflikt nun beigelegt?

Mangott: Nein, wir haben nur eine Art Vertagung erlebt, wo beide Seiten jetzt versuchen werden, ihre Position zu verbessern für einen Konflikt, der unweigerlich kommen wird.

STANDARD: Bisher hat Prigoschin als willfähriger Diener Putins gegolten, der dem Präsidenten mit seinem lauten Poltern auch als eine Art Blitzableiter dient. Haben wir uns in ihm getäuscht?

Mangott: Anfangs sicherlich. Ich bin zu Beginn davon ausgegangen, dass es sich um ein Spiel handelt, das Putin zulässt, um Druck auf die Militärführung aufrechtzuerhalten und keinen General zu stark werden zu lassen. Seit einigen Monaten hat Prigoschin aber eine rote Linie nach der anderen überschritten und Putin hat ihn ganz einfach treiben lassen. Das ist ein klares Schwächezeichen und verdeutlicht Putins Autoritätsverlust. Die Krise, die gestern so eskaliert ist, ist nichts anderes als Führungsversagen Putins, der nicht rechtzeitig gemerkt hat, wie sich die Rolle Prigoschins geändert hat und zu welcher Gefahr er für ihn selbst geworden ist.

STANDARD: Wie steht es um die Macht des Präsidenten am Tag nach der Meuterei?

Mangott: Putin ist deutlich angeschlagen, angezählt ist er aber nicht. In der Fernsehansprache am Samstag hat er von Verrat und Dolchstoß gesprochen und davon, dass die Verräter hart bestraft werden. Davon ist heute keine Rede mehr, Prigoschin geht vorerst straffrei aus und zieht sich womöglich nach Belarus zurück. Das ist alles eine Demütigung für Putin, vor allem deshalb, weil er dadurch in Teilen der Bevölkerung den Nimbus des allmächtigen, alles kontrollierenden Führers des Landes verloren hat. Vor allem hat er aber auch gegenüber der politischen Elite Schwäche gezeigt, weshalb die Ereignisse vom Samstag sicher die schwerste Krise für Putin seit seinem Machtantritt im Mai 2000 sind. 

STANDARD: Wie konnte es überhaupt so weit kommen, dass Prigoschins Kolonne hunderte Kilometer quer durch Russland fährt und niemand sie aufhält?

Mangott: Mich hat die Geschwindigkeit, mit der der Konvoi unterwegs war, auch überrascht. Dass es keine nennenswerten militärischen Versuche gegeben hat, ihn zu stoppen, ist meiner Meinung nach ein Hinweis darauf, dass sich Putin seiner Sache nicht allzu sicher war. Weder das Verteidigungsministerium noch die Nationalgarde noch das Innenministerium dürften große Lust gehabt haben, sich auf Kämpfe mit Prigoschin einzulassen. Dessen Exit, den wir dann am Abend erlebt haben, ist aber nicht mehr als eine Zwischenlösung, das Drama geht weiter.

Der Rote Platz in Moskau bleibt trotz des abgesagten Marsches der Wagner-Söldner abgeriegelt.
IMAGO/ZUMA Wire

STANDARD: Wie steht es jetzt um Verteidigungsminister Sergej Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimow, die beide von Prigoschin teils flegelhaft beschimpft worden sind?

Mangott: Putin war in dieser Auseinandersetzung lange sehr passiv, zu lange, wie ich meine. Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine Absetzung der beiden Teil des Deals gestern war. Es ist schon so, dass das Verhältnis zwischen Putin und Schoigu und Gerassimow mehr als getrübt ist aufgrund der militärischen Lage in der Ukraine, eine Entlassung zu diesem Zeitpunkt würde aber als Kniefall vor Prigoschin interpretiert werden. 

Am Samstag in der Früh meldete sich Wagner-Chef Prigoschin vom Armeestützpunkt in Rostow.
REUTERS

STANDARD: Die Vereinbarung gestern soll auf Initiative des belarussischen Machthabers Alexander Lukaschenko zustande gekommen sein. Geht der kleinere der beiden Unionsstaaten nun gestärkt aus der Krise hervor?

Mangott: Es ist in gewisser Weise bizarr, dass 2020 Putin den Präsidentensessel für Lukaschenko gerettet hat und es nun, 2023, umkehrt Lukaschenko war, der Putin in dieser Krise geholfen hat. Lukaschenko kam auch deshalb ins Spiel, weil er Prigoschin mehr als zwanzig Jahre lang kennt und auch die Möglichkeit hat, zu ihm vorzudringen. Nach drei Jahren der zunehmenden Abhängigkeit von Putin hat Lukaschenko nun sicherlich einen Punktesieg errungen.

STANDARD: Werden wir bald wieder von Prigoschin und seinen Kämpfern hören?

Mangott: Ich kann mir nicht vorstellen, dass er sich nun in Belarus auf sein Altenteil zurückzieht, wenn er denn überhaupt wirklich dort ist. Prigoschin wird sicher damit weitermachen, verbal auf die Militärführung loszugehen, durchaus auch auf Putin selbst. Solange Prigoschin am Leben bleibt und weitermacht, wird Putin mit dem Makel behaftet sein, sich nicht gegen diesen Mann durchsetzen zu können.

Wenn Putin jemanden aber einen Verräter nennt, wie er es in der Fernsehansprache am Samstag getan hat, bedeutet dies immer auch Liquidierung. Das ist bestimmt nicht vom Tisch. Putin wird nach wie vor festen Willens sein, Prigoschin auszuschalten, und zwar physisch. Die Frage ist auch, wie viele seiner Männer sich in die reguläre Armee werden eingliedern lassen. Die Mehrheit wird wohl gegenüber Prigoschin loyal bleiben, was weiterhin ein Aufruhrpotenzial und eine Herausforderung für das staatliche Gewaltmonopol bedeutet. (Florian Niederndorfer, 25.6.2023)