Der Wagner-Spezialist Peer de Jong hatte dem STANDARD vergangene Woche ein Hintergrundinterview zu den Machenschaften Prigoschins gegeben. Zum neuesten Coup des Söldnerchefs haben wir ihn am Sonntag nochmals befragt.

STANDARD: Was wollte Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin mit seinem Coup erreichen?

De Jong: Prigoschin wollte entgegen dem Anschein keinen Putsch anzetteln. Er nahm nicht die ganze Stadt Rostow ein, sondern nur ein paar Armeegebäude; und die Fahrt nach Moskau brach er ab, bevor er die Hauptstadt erreicht hatte. Prigoschin wollte vor allem Druck auf Wladimir Putin ausüben, um die Entlassung von Verteidigungsminister Sergei Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimow zu erreichen, nachdem die russische Armee ein Wagner-Lager bombardiert hatte. Prigoschins Coup war eine gut inszenierte PR-Operation, eine, die in die Geschichte eingehen wird – aber es war kein Staatsstreichversuch, wie es Mussolini 1922 mit dem Marsch auf Rom vorgemacht hatte.

STANDARD: War diese Operation wohl überlegt oder handelte Prigoschin impulsiv?

De Jong: Prigoschin ist ein Instinktmensch. Er spürte, dass er aus dem Moment Kapital schlagen und Druck auf Putin machen könnte. Wobei das in Russland wohlgemerkt mit dem Druck von Waffengewalt gemacht wird. Einmal mehr zeigt sich, dass in Russland ein mafiöses System herrscht, in dem der Stärkste gewinnt. Und Prigoschin hat seine beiden internen Gegner in einem Tag erledigt. Ich könnte mir gut vorstellen, dass Putin in ein paar Tagen General Sergej Surowikin – der Prigoschin näher steht – an die Armeespitze holt.

Jewgeni Prigoschin verließ Rostow am Don mit einem Lächeln.
Foto: AP

STANDARD: Geht Putin geschwächt aus diesem Prigoschin-Streich hervor?

De Jong: Das wird sich erst noch zeigen. Natürlich hat er einen Imageschaden erlitten. Aber er kann seine Position womöglich auch stärken, wenn er die richtigen Leute ernennt, zum Beispiel ein paar Falken, die anders als Schoigu alle Mittel einsetzen wollen, um den Krieg zu gewinnen.

STANDARD: Welche Folgen hat das für die Ukraine?

De Jong: Schwer zu sagen. Die Ukrainer sahen am Samstag schon das Ende des Krieges näherkommen. Jetzt wird der Krieg weitergehen. Das ist natürlich hart für die Ukrainer. Zugleich können sie aber auch die Bemühungen fortsetzten, in die Nato und die EU aufgenommen zu werden. Alles in allem ist es heute zu früh, um zu sagen, wie dieser "Marsch auf Moskau" ausgehen wird. In Moskau werden jetzt die Diskussionen losgehen - mit der Kernfrage, ob sich eher die Falken wie Surowikin durchsetzen werden – oder Diplomaten wie Sergej Lawrow, die für einen langsamen Abbruch des Krieges plädieren.

Peer de Jong
Foto: privat

STANDARD: Welche Folgen wird die Causa für Prigoschin haben?

De Jong: Er ist der Mann der Stunde, er geht gestärkt aus seinem Coup hervor. Man darf sich aber über seine Rolle nicht täuschen: Prigoschin ist nicht unbedingt der Kriegstreiber, als der er präsentiert wird. Er ist ein Geschäftsmann, der seine politischen Absichten mit der Bildung der Wagner-Truppe unterstützen wollte. (Stefan Brändle aus Paris, 25.6.2023)