Karl Doemens aus Washington

US-Präsident Joe Biden hält seinen Enkelsohn an der Hand, hinter ihnen ein Hubschrauber, aus dem Sohn Hunter steigt.
Großvater und Enkelsohn: US-Präsident Joe Biden gibt sich betont lässig und familiär.
AP/Andrew Harnik)

Joe Biden hielt fest die Hand seines dreijährigen Enkelsohns Beau, als er am Sonntagabend in Washington aus dem Hubschrauber kletterte. Mit Sonnenbrille und offenem Hemdkragen lächelte der US-Präsident demonstrativ in die Kameras. Die zugerufenen Fragen der Reporter zum bewaffneten Söldneraufstand in Russland aber überhörte er geflissentlich. "Die Vereinigten Staaten haben nicht die Absicht, sich in die Sache einzumischen", hatte die US-Regierung zuvor als Sprachregelung an ihre Botschaften geschickt. Das Schweigen des Oberbefehlshabers sollte das offenbar belegen.

Dass Washington während des Machtkampfs in Moskau auf Tauchstation geht, hat mehrere Gründe. Zum einen fehlen verlässliche Informationen, was genau am Wochenende in Russland abgelaufen ist. Zwar hatten die Geheimdienste die US-Regierung laut Medienberichten bereits am Mittwoch über Putschpläne des Wagner-Chefs Jewgeni Prigoschin informiert. Aber der Verlauf und abrupte Abbruch der Revolte der Privatmiliz bleiben rätselhaft. "Es gibt zurzeit mehr Fragen als Antworten", gestand Steve Hall, der einstige Chef der CIA-Operationen in Russland, auf CNN ein.

VIDEO: Das Weiße Hauses beteuert, nichts mit "der Revolte in Russland" zu tun, erklärte Biden-Sprecher John Kirby.
AFP

Vorsichtige Vorgehensweise

Vor allem aber möchte die Biden-Regierung jeglichen Anschein einer Einmischung in die Vorgänge vermeiden und damit Kreml-Chef Wladimir Putin keinerlei Vorwand für eine Vergeltungsaktion geben. "Das ist eine interne Angelegenheit von Russland", betonte US-Außenminister Antony Blinken bei einem Fernsehauftritt am Sonntag. Nur mit knappsten Statements informierte das Weiße Haus die Öffentlichkeit über die Aktivitäten des US-Präsidenten.

Tatsächlich verfolgte Biden die Ereignisse in Russland natürlich genau. Am Samstag verschob er seinen Abflug zum offiziellen Wochenenddomizil Camp David für eine streng vertrauliche Unterrichtung durch die Geheimdienste. Dann telefonierte der erfahrene Geopolitiker mit dem  deutschen Kanzler Olaf Scholz, dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron und dem britischen Premierminister Rishi Sunak. Der Westen solle die Ereignisse in Moskau ausspielen lassen, lautete gemäß US-Medienberichten die interne Botschaft. Offiziell bekannt wurde nur, dass die vier Regierungschefs ihre Unterstützung für die Ukraine bekräftigten.

Abgesagte Reisen

Derweil sagten Bidens Sicherheitsberater Jack Sullivan und Generalstabschef Mark Milley eilig geplante Auslandsreisen ab. Dann zog sich Biden mit seinen engsten Beratern nach Camp David zurück. Von dort telefonierte er mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. "Die beiden Regierungschefs diskutierten auch die jüngsten Ereignisse in Russland", hieß es anschließend knapp in einer Presseerklärung. Laut US-Medienberichten unternahm Biden keinen Versuch, mit Putin zu reden. Allerdings gab es Kontakte von Vertretern des US-Außenministeriums mit dem russischen Außenministerium.

Joe Biden spricht im Ostflügel des Weißen Hauses.
Auch wenn es am Montag eigentlich um die Highspeed-Infrastruktur in den USA ging, musste Biden viele Fragen zu Russland beantworten.
EPA

Aus amerikanischer Sicht bietet die Entwicklung in Russland Chancen, aber auch große Risiken. Innenpolitische Unruhen und ein offener Konflikt zwischen dem Militär und den Wagner-Truppen könnten dazu führen, dass die russischen Attacken auf die Ukraine weniger effektiv ablaufen. Gleichzeitig könnte ein öffentlich gedemütigter Präsident Putin aber noch unberechenbarer werden und seine Macht erst recht beweisen wollen.

Sorge vor Eskaltion

Entsprechend vorsichtig äußerte sich US-Außenminister Blinken auf CNN. Dort erklärte er, man sehe "Risse in der russischen Fassade", schränkte aber ein: "Das ist eine Entwicklung, deren letzten Akt wir noch nicht gesehen haben."

Über allem schwebt die Sorge vor einer nuklearen Eskalation des Konflikts mit furchtbaren Folgen für die Menschheit. "Die wichtigste Sache für uns ist, dass professionelles Militär die Kontrolle über die Nuklearstandorte behält", sagte Evelyn Farkas, eine ehemalige Russland-Expertin des Pentagon und heutige Chefin des McCain Institute, am Wochenende.

Doch kurzfristig geht möglicherweise die größte Gefahr gar nicht von den Atomwaffen aus. "Diejenigen, die zu Recht besorgt sind wegen eines Einsatzes nuklearer Waffen in der Ukraine, sollten sich mehr auf die Möglichkeit konzentrieren, dass Russland das Atomkraftwerk Saporischschja in die Luft jagen könnte", warnte Michael McFaul, der einstige Moskau-Botschafter der Obama-Regierung, auf Twitter. Die Anzeichen nannte der Ex-Diplomat "sehr alarmierend". (Karl Doemens, 27.6.2023)