Es ist bloß ein Erlass, gerichtet an das Arbeitsmarktservice (AMS), und kein neues Gesetz oder gar ein großes Reformvorhaben. Doch seitdem das Schreiben vom Arbeits- und Wirtschaftsminister Martin Kocher (ÖVP) an die AMS-Führung am Montag vom Ministerium selbst publik gemacht worden ist, gibt es Kritik am ÖVP-Politiker. SPÖ-Sozialsprecher Josef Muchitsch sprach von einer Schikane und einem völlig falschen politischen Ansatz Kochers. Statt über besseren Lohn und bessere Arbeitsbedingungen zu reden, werde hier versucht, Druck auf Arbeitssuchende aufzubauen. Ähnlich argumentierte Arbeiterkammerchefin Renate Anderl: "Schikanen für Arbeitslose lösen keine Arbeitsmarktprobleme!" Und auch in den sozialen Medien gingen die Wogen wie üblich hoch.

Aber was genau steht in dem strittigen Schreiben Kochers, warum ist das Thema "Geringfügigkeit" bei Arbeitssuchenden überhaupt heikel, und was sind die Argumente für und gegen den Vorstoß?

In dem Erlass ruft Kocher das AMS dazu auf, bei geringfügig beschäftigten Jobsuchenden künftig genau hinzusehen, um Missbrauch hintanzuhalten. So soll diese Gruppe intensiver vom AMS betreut werden: Geringfügig beschäftigte Arbeitslose sollen etwa nachweisen müssen, dass sie sich bei ihrem aktuellen Arbeitgeber darum bemühen, eine Vollbeschäftigung zu finden. Zudem soll das AMS geringfügige Tätigkeiten intern genau dokumentieren, um später, wenn der Verdachtsfall eines Missbrauchs auftaucht, Finanzpolizei und Sozialversicherungsträgern besser Auskunft geben zu können über Art und Umfang der geringfügigen Beschäftigung.

Kommen beim AMS Zweifel auf, ob die Beschäftigung tatsächlich geringfügig ist, soll die Finanzpolizei um Kontrollen ersucht werden. Und: Werden dem AMS "auffällige" Sachverhalte bekannt, etwa dass ein Unternehmen laufend Mitarbeiter geringfügig jobben lässt, aber gleichzeitig ständig Personal sucht, soll das ebenfalls an die Finanzpolizei gemeldet werden. Solche Konstellationen sollen auch bei der Fördervergaben vom AMS an Unternehmen berücksichtigt werden.

Keine neue Rechtslage

Die erwähnten Vorgaben schaffen für Arbeitslose keine neuen Verpflichtungen, ein Erlass kann ein Gesetz immer nur konkretisieren. So ist etwa im Arbeitslosenversicherungsgesetz schon geregelt, dass Arbeitssuchende "von sich aus alle gebotenen Anstrengungen zur Erlangung einer Beschäftigung unternehmen" müssen. Sprich: Sich nicht für eine bekannte offene Stelle im Unternehmen zu bewerben, wenn man arbeitslos ist und dort geringfügig arbeitet sowie ausreichend qualifiziert ist, würde diese Vorgabe verletzen. Genauso rechtswidrig ist natürlich, jemanden geringfügig bei der Sozialversicherung zu melden, aber tatsächlich in größerem Umfang zu beschäftigen.

Die Möglichkeit, geringfügig tätig zu sein, ist eine Besonderheit im österreichischen Versicherungsrecht: Bis zu einem monatlichen Bruttogehalt von 500,91 Euro (beim Dienstleistungsscheck 686,18 Euro) fallen beim Dienstnehmer keine Versicherungsbeiträge an (Steuern mangels eines ausreichenden Einkommens natürlich auch nicht). Der Dienstgeber muss nur den kleinen Unfallversicherungsbeitrag bezahlen. Arbeitslose können neben ihrem AMS-Bezug dazuverdienen. Regelmäßig tun das etwa zehn Prozent aller Jobsuchenden, aktuell um die 31.000 Menschen. Weil bei höherem Verdienst die Sozialversicherung  zuschlägt, ist es für viele Betroffene gar nicht so interessant, aufzustocken. Auch Unternehmen sparen sich etwas: Betriebe, die mehrere Mitarbeiter geringfügig beschäftigten, müssen zwar eine eigene Abgabe in Höhe von 17,5 Prozent des Lohnes an die Versicherung abführen. Das ist aber immer noch etwas günstiger als bei "normalen" Angestellten, bei denen etwas mehr als 21 Prozent abgeführt werden müssen.

Arbeitsminister Kocher wollte die geringfügigen Zuverdienstmöglichkeiten, die zeitlich unbegrenzt für Arbeitslose gegeben sind, im Zuge einer umfassenden Reform der Arbeitslosenversicherung eingrenzen. Das Projekt scheiterte am Widerstand der Grünen, die vor allem verhindern wollten, dass ein degressives Arbeitslosengeld, das auch im Gespräch war, eingeführt wird.

Was ist das Konzept hinter der Zuverdienstmöglichkeit für Jobsuchende, warum gibt es das überhaupt?  Die Idee ist, Menschen, die länger arbeitslos sind, den Wiedereinstieg zu erleichtern. Allerdings zeigen Analysen, dass dies unterm Strich nicht gelingt. Internationale Studien kommen zu dem Ergebnis, dass der arbeitsmarktpolitische Nutzen von Zuverdienstmöglichkeiten eher beschränkt ist: Die beiden Ökonomen Matteo Picchio und Mattia Filomena haben 2021 in einer Metastudie 64 Analysen zu Westeuropa und den USA zwischen 1990 und 2021 ausgewertet. Ergebnis: Ein Drittel der Studien sieht eine fördernde Wirkung des Zuverdienstes, 45 Prozent eine hinderliche, die übrigen haben kein klares Ergebnis.

Länger ohne Job

In Österreich kommt eine Studie des Forschungsinstituts Wifo aus dem Jahr 2019 zu dem Schluss, dass geringfügig beschäftigte Arbeitslose im Schnitt um 14 Tage länger in der Arbeitslosigkeit verbleiben als die übrigen Jobsuchenden – und einen neuen Job im Schnitt erst 22 Tage später antreten. Auch in den späteren Jobkarrieren wirkt sich die Geringfügigkeit leicht negativ aus. Statt eines Sprungbrett- tritt also öfter ein "Lock in"-Effekt ein.

Im vergangenen Jahr simulierte eine Gruppe von Ökonomen rund um den Wifo-Experten Helmut Mahringer dann, was geschehen würde, wenn man Geringfügigkeit beim Zuverdienst für Jobsuchende streichen würde. Basis der Annahme war, dass sich bisher geringfügig beschäftigte Jobsuchende so verhalten würden wie alle anderen Arbeitslosen. Ergebnis: Im Jahr 2021 hätte es dann um 15.600 weniger Arbeitslose gegeben, ein minus von fünf Prozent immerhin.

Warum dann also die Aufregung um Kochers Schreiben, wenn das aktuelle System eher einen Anreiz schafft, länger in der Arbeitslosigkeit zu verweilen?

Das AMS soll bei Arbeitssuchenden mit geringfügiger Beschäftigung genauer hinsehen.
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Die Arbeitsmarktexpertin der Arbeiterkammer, Silvia Hofbauer, sagt, das Schreiben erwecke den Anschein, als liege es ausschließlich an den Arbeitnehmern, wenn sie lange in Geringfügigkeit verbleiben. Sie verweist darauf, dass auch viele Unternehmen in Gastronomie, im Handel oder bei persönlichen Dienstleistungen vom Modell profitieren. Die Probleme, die das System mit sich bringt, sieht sie allerdings auch, darunter niedrigere Pensionsleistungen im Alter.

Wifo-Experte Mahringer wendet auch ein, dass die Möglichkeit, geringfügig dazuzuverdienen, bei einigen Gruppen wie Langzeitbeschäftigungslosen unterm Strich sehr wohl dabei helfen kann, den Wiedereinstieg zu schaffen – erst insgesamt, also über alle Arbeitslosen betrachtet, seien die Wirkungen negativ. Seine Empfehlung wäre daher, das System generell zu reformieren. Entweder eine zeitliche Befristung für die Zuverdienstmöglichkeit – oder eine Regelung, bei der ein Zuverdienst nicht sofort zum Wegfall des ganzen AMS-Bezuges führt, dieses aber schmälert.

Geringfügig beschäftigte Arbeitslose sind voll krankenversichert, zahlen aber keine Beiträge in die Pensionsversicherung. Laut der erwähnten Wifo-Analyse ist das Arbeitslosengeld bei Menschen, die dazuverdienen, etwas niedriger als bei den übrigen Jobsuchenden, was dazu führt, dass hier eine Schnittstelle liegt, die auch aus sozialpolitischer Perspektive heikel ist. Frauen arbeiten häufiger geringfügig dazu, im Haupterwerbsalter zwischen 25 und 49 Jahren ist Geringfügigkeit ebenfalls häufiger neben Arbeitslosigkeit. (András Szigetvari, 27.6.2023)