Dominik Straub aus Rom

Wenn die Geschichte nicht vom höchsten Gericht Italiens minutiös rekonstruiert worden wäre, würde man sie für Fake News halten. Und das selbst in Italien, wo Absentismus, Gleichgültigkeit und Ineffizienz im öffentlichen Dienst seit Jahren ein Dauerthema sind. Der Fall, der in diesen Tagen die Gemüter erregt, stellt in seinem Ausmaß und bezüglich der Dreistigkeit der Protagonistin alles bisher Gekannte in den Schatten.

Leeres Klassenzimmer
Eine italienische Lehrerin ist in 24 Dienstjahren nur während vier Jahren tatsächlich zum Unterricht erschienen.
AP

Die Kassationsrichter hatten über die Entlassung einer Gymnasiallehrerin für Geschichte und Philosophie in Chioggia unweit von Venedig zu urteilen, die in 24 Jahren Schuldienst nur während gesamt vier Jahren tatsächlich zum Unterricht erschienen ist. Allein zwischen 2001 und 2021 habe sie sich laut dem in dieser Woche veröffentlichten Urteil 67-mal krankschreiben lassen, jeweils zwischen 40 und 160 Tage lang. Hinzu kamen wochenlange bezahlte Urlaube zur Betreuung ihrer Eltern, Mutterschaftsurlaub und Freistellung zwecks Weiterbildung. Der Kassationshof schrieb von "abnormen Absenzen".

Abnorm ja – aber kein Grund zur Kündigung. Aus dem Schuldienst entlassen wurde die "professoressa fantasma", die Phantom-Lehrerin, wie sie von den italienischen Medien genannt wird, nämlich nicht wegen ihrer von der Schulleitung jeweils abgenickten Absenzen, sondern wegen ihrer Performance dazwischen, also in den kurzen Zeitabschnitten, in denen sie tatsächlich Unterricht gab. Ihre Lektionen seien "unvorbereitet, konfus und ohne logischen Faden" gewesen, heißt es im Urteil. Während des Abfragens der Schülerinnen und Schüler habe sie Nachrichten in ihr Mobiltelefon getippt, die Notengebung sei "zufällig" gewesen. Auch habe sie immer wieder vergessen, die Lehrbücher mit in den Unterricht zu nehmen; das habe dann wiederum zu "Improvisationen" geführt.

Streik der Schüler

Am Gymnasium von Chioggia war es 2016 sogar zu einem Schülerstreik gekommen, bei dem die Ersetzung der Lehrerin gefordert wurde. Dieser Streik war es denn auch gewesen, der das Bildungsministerium auf den Plan gerufen hatte: Es kam zu einer Inspektion des Unterrichts und danach zur Kündigung. Es folgte ein jahrelanges juristisches Tauziehen, bei dem die Lehrerin zunächst gewann und die Kündigung nach wenigen Monaten wieder rückgängig gemacht wurde. Zu mehr Schulpräsenz habe dies aber nicht geführt. Immerhin hat die "Phantom-Lehrerin" von Chioggia ihre Absenzen nicht ungenutzt verstreichen lassen: Sie hat in der Zwischenzeit mehrere Diplome erworben, unter anderem in Medizingeschichte, Kriminologie, neue Technologien und Pet Therapy, also Therapie mithilfe von Haustieren.

Auch journalistisch ist die Lehrerin tätig geworden, hauptsächlich auf Internetportalen, die sich mit schulischen Belangen befassen. Als kritische Journalistin will sie sich nach eigenen Angaben nun auch mit dem Urteil des höchsten Gerichts befassen, das ihre Entlassung aus dem Schuldienst in letzter Instanz bestätigt hat. Sie empfindet das Verdikt als ungerecht und werde "die wahre Geschichte erzählen", sagte sie. Aber erst später. Denn jetzt befinde sie sich gerade am Meer. (Dominik Straub aus Rom, 28.6.2023)