Junger, gutaussehender Mann hält seinen gebrochenen Arm und blickt zur Seite
Egal, woran man leidet, es gibt immer einen körperlichen Aspekt und einen psychischen, betont der Psychosomatiker Alexander Kugelstadt. Sogar ein gebrochener Arm kann die Psyche aus dem Gleichgewicht bringen – und die wiederum den Körper.
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Ein gebrochener Arm kann eine nachhaltige Stressreaktion im Körper auslösen und sogar Schlafstörungen zugrunde liegen. Umgekehrt können Depressionen den Blutdruck in die Höhe treiben oder Schmerzen verursachen. Denn Körper und Psyche sind untrennbar miteinander verbunden, sagt Alexander Kugelstadt. Er ist Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie und Psychoanalytiker und Autor des Buches "Dann ist das wohl psychosomatisch. Wenn Körper und Seele SOS senden und die Ärzte einfach nichts finden" (Goldmann-Verlag). Im Interview erklärt er, wie Körper und Psyche zusammenhängen, wo die Medizin noch besser werden muss und was das alles mit der Kindheit zu tun hat.

STANDARD: Sie sagen, es sei noch nie vorgekommen, dass einer Ihrer Patienten rein körperlich oder rein seelisch erkrankt war. Demnach wäre ja jede Krankheit irgendwie psychosomatisch?

Kugelstadt: Ja, denn man kann Körper und Seele gar nicht so sauber trennen, wie man früher dachte. Das ist überholt. Wenn wir krank sind oder es uns emotional nicht gut geht, reagieren wir immer auf beiden Ebenen – und zwar gleichzeitig. Die Frage ist nur, in welcher Quantität und Intensität die jeweilige Reaktion ausfällt.

STANDARD: Was meinen Sie mit Quantität?

Kugelstadt: Das Zusammenspiel von Körper und Psyche ist gewissermaßen wie die Bewegung eines Pendels. Es gibt ja Erkrankungen, die sich vorrangig auf der körperlich-organischen Ebene abspielen, und solche, die mehr die seelische Seite betreffen. Je nach Erkrankung und nach der Phase, in der wir uns gerade befinden, kann das Pendel mal mehr in die eine, mal mehr in die andere Richtung ausschlagen.

STANDARD: Können Sie dafür ein Beispiel geben?

Kugelstadt: Wenn sich jemand bei einem Fahrradunfall den Arm bricht, steht die organische Seite im Vordergrund. Gleichzeitig löst der Unfall eine Stressreaktion aus. Der Körper schüttet Cortisol und Adrenalin aus. Das sind Hormone, die unseren Organismus im Notfall in einen Hochleistungsmodus versetzen und ihn mit Energie versorgen. Und diese Hormone können unseren mentalen Zustand stark beeinflussen. Parallel fängt die Person an, den Unfall und die Verletzung ihres Armes zu interpretieren und sie vor dem Hintergrund ihrer bisherigen Lebenserfahrungen einzuordnen.

STANDARD: Und was geschieht dann?

Kugelstadt: Die eine Person steckt den Unfall gut weg, weil sie das Ganze als bewältigbar bewertet, der Stresspegel nimmt wieder ab, die Knochen heilen. Eine andere ist durch den Unfall derart erschüttert, dass sie danach nicht mehr aufs Fahrrad steigt, vielleicht sogar den Straßenverkehr meidet oder sich plötzlich im öffentlichen Nahverkehr und in großen Menschenmengen unsicher fühlt. Auf körperlicher Ebene spürt diese Person dann dauerhaft Zeichen erhöhter Erregung des vegetativen Nervensystems, und das plagt sie natürlich. Diese Auswirkungen können wir nicht bewusst steuern. Zu den häufigsten Symptomen gehören dann Schwitzen, Zittern, Herzrasen, Blutdruckerhöhungen oder auch Schlaf- und Verdauungsstörungen.

STANDARD: Und wie funktioniert das andersherum, wenn gleich zu Beginn die Psyche im Vordergrund steht?

Kugelstadt: Ein klassisches Beispiel sind depressive Erkrankungen, zum Beispiel infolge eines Jobverlusts. Hier steht der Mensch vor einer existenziellen Problematik, er muss mit finanziellen Sorgen klarkommen, verliert den Kontakt zu Kolleginnen und Kollegen, fühlt sich wertlos. Eine solche Situation muss er zwar vorrangig seelisch verarbeiten. Doch der Körper reagiert immer mit, in ihm spielt sich das ja alles ab. In dieser Lage kann der Hippocampus im Gehirn, der an der Gedächtnisbildung beteiligt ist, zum Beispiel eine Art Entzündungsreaktion zeigen. Die Nebennieren des Betroffenen schütten blutdrucksteigernde Substanzen aus, seine Blutgerinnung ist vermindert, die Herzfrequenz wird weniger flexibel, sein Schmerzempfinden kann steigen, seine Darmflora reagiert und vieles andere mehr. Körperlich passiert hier also eine ganze Menge. Und das spüren manche Menschen dann deutlich. Und manchmal spüren sie die körperlichen Veränderungen deutlicher als ihr seelisches Leid.

STANDARD: Körper und Psyche stehen also in dem einen wie dem anderen Fall in ständiger Wechselwirkung?

Kugelstadt: Richtig. Wir können das eine nicht ohne das andere denken. Besonders relevant wird das bei unspezifischen Symptomen, etwa anhaltenden Rückenschmerzen, häufiger Übelkeit oder Herzrasen. Dahinter können organische Ursachen stecken, wie eine Wirbelsäulenverletzung durch einen Unfall, eine Nahrungsmittelunverträglichkeit oder eine Herzrhythmusstörung. Oft jedoch können Ärztinnen und Ärzte nichts dergleichen feststellen. Dann sprechen wir von funktionellen Beschwerden oder somatoformen Beschwerden. Und diese werden, vereinfacht gesagt, von Gefühlen ausgelöst.

STANDARD: Wie schaffen es die Gefühle, körperlich zu werden?

Kugelstadt: Ein gutes Beispiel ist Angst. Das ist ein überlebenswichtiges, aber unangenehmes Gefühl, das wir nicht so gerne spüren. Wenn wir sehr stark versuchen, es wegzudrücken, können wir es dann trotzdem – oder erst recht – in Form von Übelkeit, Herzrasen oder Schwindel bemerken. Diese Körperreaktionen rühren daher, dass uns Angst seit jeher vor Gefahren schützt, früher vor allem vor wilden Tieren. Der Körper fährt in der Not alles runter, was gerade nicht der unmittelbaren Gefahrenabwehr dient, um zu kämpfen, zu flüchten oder sich tot zu stellen. Der Körper steckt die Energie stattdessen zum Beispiel in die Muskulatur und das Herzkreislaufsystem. Den Muskeln wird eine enorme Energie zur Verfügung gestellt, daher kommen die innere Unruhe und das Zittern, wenn wir große Angst haben. Um den Körper leichter zu machen, wirft er oft auch Kot ab, um besser wegrennen zu können. Hierfür ist der Durchfall da. Und Übelkeit sorgt dafür, dass an Essen gar nicht zu denken ist und der Organismus sich nicht mit der Verdauung aufhält. Vor Konflikten in der Arbeit oder in der Partnerschaft können oder müssen wir heute allerdings nicht mehr weglaufen.

STANDARD: Sich tot stellen oder zuschlagen ist meist keine Option.

Kugelstadt: Genau. Diese Konflikte versuchen wir anders zu lösen. Die Angst ist aber dieselbe wie einst in der Savanne, und sie wird oft zum Störfaktor in der Lebensweise unserer heutigen Kultur. Daher wird sie manchmal emotional stark abgewehrt. Je stärker die abgewehrte Angst ist, die ja eine hohe und hilfreiche Energie hat, desto lauter können sich körperliche Symptome bemerkbar machen.

STANDARD: Sie sind Psychoanalytiker. Warum kann der Blick auf die Kindheit für das Verständnis der eigenen Symptome wertvoll sein?

Kugelstadt: Durch unsere frühkindlichen Erfahrungen entsteht unbemerkt eine psychische Landkarte, mit deren Hilfe wir spätere Erlebnisse interpretieren und uns durchs Leben navigieren. Wir reagieren dann aber nicht unbedingt der aktuellen Realität entsprechend, sondern mitunter eher passend zu den Erfahrungen, die weit zurückliegen und ganz andere waren. Unsere innere Landkarte verändert sich im Laufe des Lebens. Um körperliche Beschwerden zu verstehen, bieten Erfahrungen aus der Kindheit oder die Lebensgeschichte nützliche Anhaltspunkte. Menschen reagieren auf psychischen Stress ja mit unterschiedlichen körperlichen Symptomen. Bei manchen rast das Herz, andere bekommen einen Hautausschlag, und wieder andere bekommen einen Hexenschuss.

STANDARD: Und was hat das mit der Kindheit zu tun?

Kugelstadt: Wer als Kind beispielsweise eine starke Neurodermitis hatte, reagiert bei späteren Spannungen und Stresserfahrungen womöglich leichter mit der Haut. Das Immunsystem hat nämlich die Haut als eine Art Sollbruchstelle gespeichert; ebenso wie das Unterbewusstsein, die Seele. Hat sich jemand vor Jahrzehnten mal den Arm gebrochen, kann es sein, dass dort die Muskulatur bei Stress und Anspannung wieder schmerzt, obwohl der Arm sonst keine Probleme mehr verursacht. Dazu kommen Lernprozesse. Hat ein Kind etwa gesehen, dass der Vater auf alles Mögliche mit Kopfschmerzen reagiert, bekommt der Kopf mitunter eine Rolle zugeschrieben als der Körperteil, der Überlastung anzeigt und die Möglichkeit zum Rückzug bietet.

STANDARD: Brauchen kranke Menschen dann am besten zwei Ansprechpartner? Einen für den Körper und einen für die Seele?

Kugelstadt: Nein, dann wäre beides ja wieder getrennt. Idealerweise kümmert sich eine Fachperson um beides. Hat ein Mensch ein Herzleiden, würde der Arzt oder die Ärztin das Organ untersuchen und sich nach den Lebensumständen erkundigen. In der Praxis findet das leider noch viel zu selten statt. Was dazu beiträgt, dass Patientinnen und Patienten die Befunde der unterschiedlichen Fachdisziplinen selbst einordnen müssen, sich damit ziemlich alleine gelassen fühlen und ihre Beschwerden oft fragmentiert wahrnehmen. Dabei gibt es längst übergreifende Disziplinen. Um beim Beispiel Herz zu bleiben: Die Psychokardiologie etwa trägt der Tatsache Rechnung, dass Stress Herzleiden auslöst oder aufrechterhalten kann. Ein anderes Beispiel sind chronische Rückenschmerzen. Da ist zum Beispiel ein Bandscheibenvorfall auf dem Röntgenbild zu sehen, der Orthopäde hat also etwas Auffälliges gefunden, rät vielleicht sogar zur Operation. Aber wir wissen heute, dass chronische Rückenschmerzen oft gar nichts mit dem sichtbaren Befund zu tun haben. Diese Informationen müssen sich die Patientinnen und Patienten dann alleine zusammensuchen.

STANDARD: Woran merke ich, dass ich die Psyche mehr in den Blick nehmen sollte?

Kugelstadt: Der Marker sollte das eigene Empfinden sein. Manche Menschen fühlen sich stark belastet, sind erschöpft, können nicht durchschlafen, sagen sich aber: Okay, momentan ist nun mal eine schwierige Phase – vielleicht eine Trennung oder ein Todesfall –, und da muss ich jetzt durch. Eine andere Person bewertet die Situation völlig anders, sie lässt sich vielleicht lieber ein Schlafmittel verschreiben oder geht zum Psychotherapeuten. Diese unterschiedlichen Reaktionen dürfen sein. Wenn mich meine körperlichen Beschwerden hingegen sehr beschäftigen und ich merke, dass meine Freunde, meine Partnerin, vielleicht sogar mein Hausarzt, nicht mehr richtig hinhören oder gar die Augen verdrehen, kann das darauf hinweisen, dass ich mich im Organischen verrenne und das Mentale und die unbewusste Seite mehr in den Blick nehmen sollte. Daneben gibt es natürlich auch noch das andere Extrem.

STANDARD: Sie meinen Menschen, die hinter jeder körperlichen Beschwerde eine emotionale Ursache vermuten und eher nicht zum Arzt gehen?

Kugelstadt: Richtig. Hinter körperlichen Beschwerden kann ja im schlimmsten Fall ein Tumor stecken. Auch Antriebslosigkeit muss nicht immer Zeichen einer Depression sein, sondern kann durch eine Schilddrüsenunterfunktion ausgelöst worden sein. Hepatitis oder eine schleichende Entzündung können ebenfalls depressive Symptome verursachen. Deswegen ist es so wichtig, von Anfang an beides, Seele und Körper ernst zu nehmen. Das heißt aber nicht, dem Körperlichen weniger Beachtung zu schenken, sondern dem Seelischen mehr.

STANDARD: Haben Sie noch einen Tipp für Betroffene?

Kugelstadt: Es ist gut, aktiv zu werden und sich Hilfe zu suchen. Aber man sollte auch darauf vertrauen, dass man vieles selber kann, und sich von den Fachpersonen wieder lösen. Erst recht, wenn man merkt, dass man nicht weiterkommt. In der Reha sehe ich manchmal Menschen, die seit zwei Jahren Psychotherapie machen und die ganze Zeit ein komisches Gefühl haben. Dieses komische Gefühl ist meistens etwas sehr Gesundes und kann ein Hinweis darauf sein, dass die Behandlung in eine Richtung geht, die nicht zu der Person und ihren Bedürfnissen passt. Nur weil ein Mensch psychosomatisch erkrankt ist, heißt das nicht, dass sein Urteilsvermögen außer Kraft gesetzt ist. Die Einschätzung, ob einem etwas guttut oder nicht, bleibt trotz Erkrankung meist erhalten. (Stella Marie Hombach, 2.7.2023)