Vinzenz Jager über übermotivierte Eltern: "Die Situation eskaliert auch in Spielen, in denen es um absolut nichts geht."
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Immer wieder werden auf österreichischen Fußballplätzen Spiele im Nachwuchsbereich abgebrochen. Es geht um rabiate Eltern, handgreifliche Spieler, attackierte Schiedsrichter. Vinzenz Jager bietet im Großraum Wien seit 2014 Feriencamps und Fußballkurse für Kinder und Jugendliche an. Er spricht mit dem STANDARD über die häufigen Eskalationen – und macht sich über Lösungsansätze Gedanken.

STANDARD: Wir haben zuletzt über die häufigen Eskalationen im Nachwuchsfußball berichtet. Unzählige Leser und Leserinnen haben daraufhin ihre erschreckenden Erfahrungen geteilt. Sind Sie überrascht?

Jager: Ich bin nicht überrascht. Ich mache laufend Beobachtungen in diese Richtung. Es gibt viel mehr Zwischenfälle, als am Ende tatsächlich offiziell festgehalten werden. Über die Vorfälle vor und nach den Spielen redet ja kaum jemand.

STANDARD: Wo liegen die großen Problemfelder?

Jager: Da sind zunächst die Trainer. Rund die Hälfte tritt ohne Ausbildung an. Man benötigt keine Schulung, um als Trainer arbeiten zu können. Der Verband verlangt keinerlei Nachweis einer Qualifikation. Fachlich und pädagogisch sind diese Trainer also unqualifiziert. Das merkt man auch. Viele erfüllen nicht ihre Vorbildfunktion. Das überträgt sich wiederum auf die Spieler und deren Eltern. Zu viel Emotion führt dann immer wieder zur Eskalation.

STANDARD: Scheitert es also an den Umgangsformen?

Jager: Im Fußball haben sich Kommunikationsformen etabliert, die in anderen Bereichen der Gesellschaft nicht akzeptiert werden. Woher nimmt man sich das Recht, einen Schiedsrichter zu beschimpfen? Stellen Sie sich das vor: Sie machen Ihre Arbeit und werden kurz darauf beleidigt und niedergeschrien, weil irgendjemand mit einer Ihrer Entscheidungen nicht einverstanden ist. Sie würden wohl auch den Spaß an der Sache verlieren.

STANDARD: Auch den Schiedsrichtern wird mangelnde Qualifikation nachgesagt. Was ist da dran?

Jager: Man findet kaum noch Leute, die den Job machen wollen. Man muss also jeden nehmen, der Interesse zeigt. Viele Schiedsrichter sind für die Aufgabe nicht geeignet. Manche sind zu unerfahren, die anderen können keine Entscheidungen treffen. Die Überforderung ist nicht zu übersehen. Hat ein Schiedsrichter ein Spiel nicht unter Kontrolle, trägt das nicht zu einem ruhigen Matchverlauf bei. Bei den jüngsten Mannschaften gibt es gar keine Schiedsrichter. Da fehlt völlig die regulierende Instanz.

So friedlich wie hier auf dem Platz des Favoritner AC in Wien sollte es im Nachwuchsfußball immer zugehen. Die Realität sieht anders aus. Viele Eltern und Trainer kommen ihrer Vorbildfunktion nur unzureichend nach.
Standard/Heribert Corn

STANDARD: Immer wieder geraten auch die Eltern der Spieler in Konflikt.

Jager: Wie ist es im Profifußball geregelt? Die Gästefans sind auf einer Seite, die Heimfans auf der anderen Seite. Es gibt einen Abstand zum Spielfeld und so weiter. Bei einem U8-Spiel stehen die Eltern unmittelbar am Spielfeld, bringen dort extreme Emotionen rein, es wird häufig aufgepeitscht. Alkohol ist auch ein Thema. Es gibt keinen Ordnerdienst, keinen Schiedsrichter. Oft übernimmt das ein Vater aus der Heimmannschaft. Den Rest kann man sich vorstellen.

STANDARD: Wo muss man ansetzen?

Jager: Eine Ausbildung der Trainer sollte verpflichtend sein. Die Schiedsrichter müssen besser geschützt werden. Die Infrastruktur sollte so gestaltet sein, dass ein adäquater Abstand zwischen Spielfeld und Publikum eingehalten wird. In den Kabinen wäre eine räumliche Trennung hilfreich. Aber das ist natürlich alles mit Kosten verbunden.

STANDARD: "Schieß!", "Pass!", "Lauf!" – sollte man den Eltern das Reinschreien untersagen?

Jager: Nein, der Fußball lebt auch von Emotionen. Aber man muss den Fairplay-Gedanken stärken. Die Situation eskaliert auch in Spielen, in denen es um absolut nichts geht. Da gibt es nicht einmal eine Tabelle, und die Eltern verlieren die Nerven. Wie kann das passieren? Mein Vorschlag: Auch eine Fairplay-Wertung kann über einen Meistertitel entscheiden. Die fairste Mannschaft erhält zum Beispiel neun zusätzliche Punkte, die zweite bekommt sechs. Fairness muss sich bezahlt machen, sie muss merkbar belohnt werden. Das wäre alles leicht umzusetzen.

STANDARD: Bis zu den U12-Mannschaften werden mittlerweile keine Tabellen mehr geführt. Ist das eine sinnvolle Maßnahme?

Jager: Mir gefällt das nicht. Ergebnisse sind eine Lebensrealität. Man weiß ja ohnehin, wie die Spiele ausgegangen sind. Natürlich kann man den Kindern beibringen: Wir sind alle gleich begabt, jeder bekommt gleich viel, bei uns gilt nicht das Leistungsprinzip. Das ist aber eine Lebenslüge, wir gaukeln uns eine heile Welt vor. Der Fußball ist ein Wettkampf, es geht um Sieg und Niederlage. Und vor allem geht es darum, den Umgang mit der Niederlage zu lernen. Denn verlieren müssen im Sport alle.

STANDARD: Welche Rolle könnten die Fußballverbände einnehmen, um die Situation zu verbessern?

Jager: Sie müssten vermehrt positive Anreize für Fairplay schaffen. Damit werden die Vereine derzeit alleingelassen. Momentan nehmen wir den Verband in erster Linie als Verteiler von Strafen wahr. 50 Euro Strafe, wenn ein Ball nicht aufgepumpt ist. 20 Euro Strafe, wenn ein Foto im Spielerpass nicht aktuell ist. 100 Euro Strafe, wenn ein Meisterschaftsspiel zu spät anfängt. Das alles bringt wenig. Im Gegenteil: Es schädigt die Beziehungen. Die Verbände sollten sich als Dienstleister wahrnehmen. (Philip Bauer, 27.6.2023)