Richard Virenque bei der Tour de France 1998. 
Der französische Bergspezialist Richard Virenque wurde binnen weniger Tage vom Liebling der Nation zum Buhmann.
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Es ist kurz vor elf Uhr Abend, als Jean-Marie Leblanc vor die Presse tritt. Die bunte Krawatte, die er trägt, will nicht zur Mine des Direktors der Tour de France passen. Der Schrecken steht ihm ins Gesicht geschrieben. Es ist der 17. Juli 1998, die Tour ist gerade sechs Etappen alt. Nach dieser improvisierten Pressekonferenz wird die Welt des Radsports nicht mehr dieselbe sein wie zuvor. "Meine Herren, Sie haben einen schwierigen Job", begrüßt Leblanc die Journalisten. "Wir aber manchmal auch." Dann lässt er die Bombe platzen: Die gesamte Festina-Mannschaft wird von der laufenden Tour de France ausgeschlossen.

Was ist passiert? Am 8. Juli, noch drei Tage vor dem Start des Rennens, wird Willy Voet, ein Mitarbeiter der Festina-Équipe an der belgisch-französischen Grenze von der Polizei gestoppt. In seinem Kofferraum finden die Polizeibeamten brisantes Material: Amphetamine, Wachstumshormone, Testosteron – und 235 Ampullen Erythropoetin, kurz Epo. Voet wird verhaftet. Bruno Roussel, der sportliche Leiter der Mannschaft, streitet zunächst jeden Zusammenhang zwischen den Rennfahrern und den verbotenen Substanzen ab. Am 17. Juli aber wird er selbst verhaftet und gibt ein großangelegtes Dopingprogramm zu, in das praktisch das gesamte Team involviert gewesen sei

Jean Marie Leblanc, Direktor der Tour de France
Am 17. Juli schließt Tour-Direktor Jean-Marie Leblanc die gesamte Festina-Mannschaft vom Rennen aus
imago/Kolvenbach

"Grande Nation" ins Herz getroffen

Nur Stunden später wird Festina von der Tour ausgeschlossen – ein französisches Team, beim französischsten aller Sportevents, wenige Tage, nachdem Frankreich im eigenen Land Fußball-Weltmeister geworden ist: Der Skandal ist perfekt. Mit Richard Virenque, zu diesem Zeitpunkt bereits viermaliger Sieger des Bergtrikots und im Vorjahr Zweiter der Tour, verlieren die Fans einen ihrer Lieblinge. Besonders pikant: Festina, der Hauptsponsor der Mannschaft, ist offizieller Zeitnehmer bei der Frankreich-Rundfahrt.

Tags darauf sagt der britische TV-Moderator Phil Liggett vor laufender Kamera: "In den 26 Jahren, in denen ich von diesem Rennen berichtet habe, habe ich nie etwas Vergleichbares erlebt." Mittlerweile hält Liggett bei 50 Austragungen der Tour de France. Die Ausgabe von 1998 stellt aber tatsächlich eine Zäsur dar. Testosteron, Wachstumshormone: Alles alte, wenngleich verbotene Bekannte, quer durch die Sportwelt. Nun aber hat der Radsport von der verbotenen Frucht Epo gekostet – und wurde unsanft aus dem Paradies vertrieben.

Tour de France 1998, Doping
Die Fans fordern eine saubere Tour de France - werden sie aber auch in den nächsten Jahren nicht bekommen.
imago/Schwenke

Auftakt für eine dunkle Ära

Erythropoietin ist ein körpereigenes Hormon, das zum Wachstum roter Blutkörperchen beiträgt. Als Medikament wird es bei Blutarmut eingesetzt. In den Neunzigern entdecken Ausdauersportler, dass das Mittel die Sauerstoffversorgung im Körper stärkt – und damit die Leistung. Zwar ist Epo seit 1990 verboten. Bis ins neue Jahrtausend hinein gibt es aber noch keine Tests, um den Stoff nachzuweisen. Für viele eine Einladung.

Das Mittel wird den Radsport über Jahrzehnte prägen, seinem Image nachhaltig schaden. Dafür sorgen etwa die Skandale um die Dopingärzte Michele Ferrari oder Eufemiano Fuentes, in deren Kundendateien illustre Namen wie Mario Cipollini, Jan Ullrich, Ivan Basso oder Alejandro Valverde stehen. Ihren unbestreitbaren Höhepunkt erreicht die Epo-Welle mit Lance Armstrong – dem seine sieben Siege bei der Tour (1999-2007) aberkannt werden. Die Titel werden nicht neu vergeben, denn die Fahrer auf den nachfolgenden Plätzen sind nicht selten selbst gedopt.

Jan Ulrich, Marco Pantani, Tour de France 1998
Die Tour 1998 gewinnt Marco Pantani (r.) vor Jan Ullrich. 2013 kommt heraus, dass in dem Rennen beide mit Epo gedopt waren.
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Und heute?

Bis heute fährt der Verdacht im Radsport ständig mit. Zu viele Fahrer aus der "dunklen Ära" der 90er und 2000er-Jahre sind nunmehr als sportliche Leiter in Profiteams aktiv. Viele wurden während ihrer aktiven Zeit selbst des Dopings überführt. Nicht alle sind mit Einsicht gesegnet. Gerade Österreich ist durch spektakuläre Fälle wie den von Bernhard Kohl, Tour-Dritter 2008, ein gebranntes Kind.

Dopingtests
Heute wird im Radsport deutlich mehr getestet als noch vor 20 Jahren.
Quelle: Wada; Gestaltung: Der Standard / Robin Kohrs

Pauschalurteile über Radrennfahrer sind schnell gefällt. Was aber sind die Fakten? Epo lässt sich schon seit dem Jahr 2000 nachweisen. Mehr als die Hälfte aller Tests findet mittlerweile unangekündigt, außerhalb von Wettkämpfen statt. Mit der Einführung des biologischen Passes 2008 sind abnorme Veränderungen von leistungsentscheidenden Parametern leichter zu erkennen – der Einsatz von Mikrodosierungen setzt dem aber wiederum Grenzen.

2003 – dem frühesten Jahr, zu dem vergleichbares Datenmaterial vorliegt – erbrachten im gesamten Radsport 12.352 Dopingproben 486 positive Fälle. Nicht alle davon betrafen Epo, und nicht alle sind automatisch als Dopingvergehen einzustufen, da Athletinnen und Athleten die Möglichkeit eingeräumt wird, ihre Unschuld nachzuweisen. 2021, dem jüngsten Jahr der Statistik, waren von 20.617 Proben 146 positiv. Die Quote sank gegenüber der Hochphase des Epo-Dopings von knapp vier auf unter ein Prozent.

Positive Tests
Der Anteil positiver Tests sank von über vier auf rund ein Prozent.
Quelle: Wada; Gestaltung: Der Standard / Robin Kohrs

Ein Blick auf die Sanktionslisten zeigt: Epo spielt heute nicht mehr dieselbe Rolle wie um die Jahrtausendwende. Selbst 25 Jahre nach dem Festina-Skandal ist es aber immer wieder Mittel der Wahl. Und immer wieder sind es Hobby- oder Amateurradsportler, die vor den Sportgerichten landen. Grenzen werden aber auch anders ausgelotet: Beobachter kritisieren im Spitzen- wie im Breitensport zunehmend den "kreativen" Einsatz zugelassener, aber verschreibungspflichtiger Medikamente oder Schmerzmittel. Der Ehrgeiz zu siegen hält sich also über die Zeiten und Leistungsgruppen. Wirklich Geschichte sein wird das düstere Thema Doping wohl nie. (Michael Windisch, 8.7.2023)