Porträt der dänischen Kommunikationswissenschafterin Stine Lomborg
Um uns weniger abhängig von den Technologien großer Unternehmen zu machen, müssten wir umdenken, sagt die dänische Kommunikationswissenschafterin Stine Lomborg.
Corn

Digitales Tracken, also das Nachverfolgen der Daten, die wir mehr oder weniger automatisch hinterlassen, ist längst Standard. Es spielt eine wichtige Rolle bei der Optimierung vieler Apps und Webdienste, kann aber auch ungewollte Einblicke in das Leben eines Menschen geben. Die Kommunikationswissenschafterin Stine Lomborg beschäftigt sich mit den Macht- und Infrastrukturen im Hintergrund.

STANDARD: Wir lassen uns tracken, erzeugen permanent Daten und tragen diese auch noch ständig mit uns herum. Das ist eine große Erleichterung im Alltag, kann aber auch beängstigend sein. Ist uns eigentlich bewusst, was das bedeutet?

Lomborg: Ich denke nicht – auch wenn die meisten Menschen, die ein Handy bei sich tragen, ein Gefühl dafür haben. Schließlich gibt es  Schrittzähler oder Menstruationstracker. Oder Sie möchten mehr über Ihren Schlaf wissen, Produktivitätslisten führen oder mit einer Lauf-App Ihr Training aufzeichnen. Das Smartphone lädt ein, sich mit den eigenen Daten zu beschäftigen. Wenn Sie beispielsweise ein Apple-Telefon haben, erhalten Sie Benachrichtigungen darüber, wie viel Zeit Sie mit Ihrem Telefon verbringen und womit – es sei denn, Sie schalten es aus. Das ist auch Tracking. So wird Tracking in der persönlichen Erfahrung greifbar.

STANDARD: Aber wissen wir über das Ausmaß von Datentracking genug?

Lomborg: In meinen Studien höre ich oft: "Ich habe neulich nach diesem Ding gesucht oder mit meinem Freund darüber gesprochen, und seither tauchen plötzlich in meinem Facebook-Feed Werbespots für diese und jene Art von Produkt auf. Ist das nicht komisch?" Es ist, als würde man belauscht werden. Das erzeugt dieses beängstigende Gefühl. Verstehen Politiker und Aufsichtsbehörden das Ausmaß des Trackings? Ich bin nicht sicher. Unsere Gesellschaft baut jedenfalls darauf auf, und um uns weniger davon abhängig zu machen, müssten wir umdenken.

STANDARD: Wie funktioniert denn Tracking grundsätzlich?

Lomborg: Es gibt viele Formen von Tracking. Eine klassische Technologie sind Web-Cookies. Das ist im Grunde genommen eine Infrastruktur, die zeigt, welche anderen Webseiten der Nutzer dieser Seite besucht. Also versucht das Cookie, Sie zu verfolgen und Ihre Spuren im Internet aufzuzeichnen. Und daraus abzuleiten, was für ein Mensch Sie sind, woran Sie interessiert sein könnten. Oder das Mobiltelefon: Es pingt ständig das Telefonnetz an und sendet Ihren Standort. Daraus lässt sich auf viele Aktivitäten schließen.

"Cookies versuchen, Ihre Spuren im Internet aufzuzeichnen und daraus abzuleiten, was für ein Mensch Sie sind."

STANDARD: Sie sprechen von infrastruktureller Macht, die durch Tracking ausgeübt wird. Wie ist das zu verstehen?

Lomborg: Die grundlegenden Bausteine des Trackings sind Technologien. Mittlerweile stammen die bekanntesten Cookies von großen Unternehmen wie Google, weil sie Tracker bereitstellen, die einfach zu verwenden sind und über gute Analysefunktionen verfügen. Daneben gibt es Software-Development-Kits (SDKs), das ist ein Satz von Software-Tools, der nach dem gleichen Prinzip wie ein Cookie funktioniert, sich aber nicht einfach ausschalten lässt. Einige SDKs sind unerlässlich für das Funktionieren von Apps. Wenn man etwa eine App für iPhones entwickeln möchte, muss man SDKs installieren, die Apple gehören. Die Tatsache, dass man praktisch nicht Nein dazu sagen kann, macht SDKs noch mächtiger und schwieriger zu regulieren.

STANDARD: Gibt es eine Alternative zur Abhängigkeit von Big Tech?

Lomborg: Neben essenziellen SDKs gibt es auch solche, die man nicht von der Stange wählen müsste – inbesondere wenn es um staatliche Kommunikationsplattformen, etwa im Gesundheits- oder Schulwesen, geht. Das gilt auch für Cloud-Lösungen, Backbone-Netzwerke etc. Aber Entwickler müssen schnell arbeiten und entscheiden sich meist dafür, vorhandenen Code zu verwenden, anstatt ihn von Grund auf neu zu schreiben. Die Alternative wäre, den Druck herauszunehmen und sich mehr Zeit zu nehmen, um technologische Infrastrukturen zu entwickeln, die eher den öffentlichen Werten entsprechen oder die kein Tracking ermöglichen. Vielleicht wäre das Interneterlebnis nicht so angenehm, reibungslos und nahtlos, wie man es heute als Endnutzer erlebt. Aber vielleicht würde es sich lohnen, angesichts der Kompromisse und der Opfer, die wir heute bringen müssen.

STANDARD: Was ist es, das wir opfern?

Lomborg: Wir opfern das Recht, frei über unsere eigene Zukunft zu entscheiden. Das mag übertrieben klingen, denn die meisten von uns werden den negativen Folgen von Tracking nicht direkt ausgesetzt. Die Forschung hat gezeigt, dass gerade vulnerable Gruppen am meisten durch Tracking Schaden nehmen können. So werden beispielsweise Einwanderer durch digitale Nachverfolgung viel stärker ins Visier genommen, und ihre Zukunft hängt erheblich von den daraus gewonnenen Erkenntnissen ab. Das ist ein ganz anderer Fall, als wenn wir personalisierte Werbung serviert bekommen, das ist für die meisten Leute okay. Das Problem ist: Wir wissen nicht, ob das digitale Tracking, das heute stattfindet, uns in Zukunft schaden wird. Die umfassende digitale Erfassung ist eine Form infrastruktureller Macht, welche die Bausteine der europäischen Wohlfahrtsgesellschaften, also Werte wie Solidarität, Gleichheit und Autonomie, zunehmend unter Druck setzt. Das ist ein abstrakter Wandel, den wir in unserer Zeit vielleicht nicht mehr erleben werden. Aber unsere Kinder werden es.

Porträt der dänischen Kommunikationswissenschafterin Stine Lomborg, dahinter dunkle Wolken
"Die Alternative wäre, den Druck herauszunehmen und sich mehr Zeit zu nehmen, um technologische Infrastrukturen zu entwickeln, die eher den öffentlichen Werten entsprechen oder die kein Tracking ermöglichen", sagtStine Lomborg bei ihrem Besuch in Wien.
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STANDARD: Dänemark gilt als Vorreiter in Sachen Digitalisierung. Wie ist das im Alltag spürbar?

Lomborg: In Dänemark gibt es mehr Mobiltelefone als Menschen. Es gibt eine lange Tradition von E-Government-Initiativen. Es ist allgemeiner Konsens, dass wir im Austausch für ein gutes soziales Sicherheitsnetz den Staat unsere Daten sammeln lassen. Wenn wir mit irgendeiner Stelle der öffentlichen Verwaltung in Kontakt treten wollen, müssen wir das zuerst digital machen. Das wirft natürlich Fragen nach digitalen Fähigkeiten und Ungleichheiten auf, aber es bedeutet auch, dass wir den Bürgern Verantwortung überlassen. Das System gibt mir mehr Freiheiten – ich kann mit den Behörden kommunizieren, wann ich will, habe jederzeit Einblick in meine ärztlichen Befunde. Auf der anderen Seite könnte man fragen: Was kommt als Nächstes? Ist der nächste Schritt, dass ich meine Befunde interpretieren muss, bevor ich einen Arzttermin bekomme? Die Dänen erwarten viel von den Technologien, das bedeutet aber nicht, dass sie auf die persönliche Betreuung verzichten wollen. Beides sollte Hand in Hand gehen.

STANDARD: Mit derartigen Fragen zur Digitalisierung schlagen sich die meisten Länder herum. Was können wir vom dänischen Beispiel lernen?

Lomborg: Weil in Dänemark das Tempo der Digitalisierung so hoch war, treten hier die Probleme der infrastrukturellen Macht von Technologieunternehmen besonders deutlich zutage. Wenn man sich noch nicht entschieden hat, den gesamten öffentlichen Raum oder das gesamte Sozialsystem zu digitalisieren, sollte man versuchen, die Entwicklung mit offenen Augen zu steuern und entsprechend zu regulieren, anstatt überstürzt zu handeln. Es ist ansonsten sehr schwierig, Rückzieher bei einmal implementierten Systemen zu machen. (Karin Krichmayr, 11.7.2023)