Stefan Brändle aus Paris

Sogar Kylian Mbappé reagierte voller Empörung: "Mein Frankreich schmerzt mich", schrieb der Fußballstar der französischen Nationalelf auf Twitter. Er bezog sich auf den Tod eines 17-Jährigen namens Nahel. Der Teenager und Freizeit-Rugbyspieler aus einer Banlieue-Siedlung in Paris-Nanterre war am Dienstagmorgen mit zwei Kumpels in seinem Sportwagen von einer Motorradstreife angehalten worden.

Auf einem Video ist zu sehen, wie ein Polizist halb auf der Kühlerhaube lehnend sein Gewehr auf den Fahrer am Steuerrad gerichtet hält, während er und sein Kollege mit dem Fahrer durch das geöffnete Wagenfenster sprechen. Nach kurzer Zeit fährt der gelbe Mercedes brüsk los. In diesem Moment löst sich ein Schuss aus der Waffe des Polizisten, der durch den anfahrenden Wagen abgedrängt wird. Etwas weiter kracht der Wagen in eine Leitplanke. Ein Kumpel flieht, der zweite wird festgenommen. Nahel erliegt wenige Minuten später im Beisein der Rettungsmannschaft seiner Schussverletzung.

Polizisten sprechen von Notwehr

In ersten Stellungnahmen der Behörden hieß es, die zwei Streifenpolizisten hätten auf Notwehr plädiert. Der Anwalt von Nahels Mutter erklärte, der Minderjährige sei "kaltblütig niedergestreckt" worden, ohne dass auf dem leicht verzitterten Video auch nur der Ansatz eines Notwehrargumentes sichtbar sei. Der Tatbestand der vorsätzlichen Tötung sei zweifellos erfüllt.

Adolescent tué par un policier à Nanterre : le résumé des événements
Le Monde

Der Polizeischütze wurde in Gewahrsam genommen. Eine Untersuchung lautet auf vorsätzliche Tötung. Ermittelt wird auch wegen Befehlsverweigerung. Nahel verfügte dem Vernehmen nach über keinen Fahrausweis und hatte sich der polizeilichen Autorität schon früher mehrmals entzogen.

In den sozialen Medien gehen die Wogen hoch. Auch Prominente wie der Schauspieler Omar Sy oder der Rapper Rohff verlangen restlose Aufklärung und eine entsprechende Bestrafung. Innenminister Gérald Darmanin, der sonst als Hardliner der Regierung Macron gilt, meinte seinerseits, die Bilder vom Tod des 17-Jährigen seien "äußerst schockierend".

Schule angezündet, Angriffe auf Feuerwehr

Das genügt aber nicht, um die Lage zu beruhigen. In der Nacht kam es in Wohnsiedlungen von Nanterre zu heftigen Krawallen. Nach einer Demonstration vor der Polizeiwache von Nanterre steckten Vermummte Autos und Mülltonnen in Brand; sie errichteten Barrikaden und griffen die Einsatzpolizei mit Wurfgeschoßen und Feuerwerk an. Auch ein Schulgebäude brannte teilweise aus, die anrückende Feuerwehr wurde an der Löscharbeit gehindert.

Polizeikontrolle in Nanterre
Bei der Polizeikontrolle fiel ein tödlicher Schuss.
AP

Später in der Nacht griffen die Ausschreitungen auf Pariser Vororte, aber auch auf die Burgunderstadt Dijon über. Gewalttätige Proteste gab es auch in Clichy-sous-Bois. Dort waren 2005 die bisher schwersten Banlieue-Unruhen ausgebrochen, nachdem eine Polizeikontrolle mit dem Tod zweier Minderjähriger geendet hatte.

Präsident unter Druck

Der polizeiliche "bavure" (Schnitzer) in Nanterre könnte für Emmanuel Macron unangenehme Folgen haben. Der Präsident steht seit langem unter Druck der Rechten, die ihm vorwirft, er unternehme nichts gegen die landesweite Häufung von Gewaltakten, Einbrüchen, Femiziden und Schießereien von Drogenbanden. Einzelne Soziologen sprechen gar von einer "décivilisation", also einer "Entzivilisierung" oder Verwilderung der Sitten.

Als Antwort darauf wollte Macron die Polizeikräfte ausbauen, Gefängnisplätze erstellen und ein neues Immigrationsgesetz erlassen. Damit lockte er die konservativen Republikaner, auf deren Stimmen er in der Nationalversammlung angewiesen ist, weil seine Partei dort in der Minderheit ist.

Dieser Kurs nach rechts wird nun von dem Todesfall in Nanterre auf einen Schlag durchkreuzt. Jetzt muss sich Macron plötzlich wieder gegen Angriffe von links verteidigen. "Was bleibt von unserem Rechtsstaat, wenn eine Befehlsverweigerung zu einer standrechtlichen Erschießung führt?", fragte Clémentine Autain von der Partei der Unbeugsamen. Parteichef Jean-Luc Mélenchon twitterte bitterböse: " Die Todesstrafe existiert nicht mehr in Frankreich."

Macron musste am Mittwoch improvisiert reagieren. Er sprach von einem "unerklärbaren" und "unentschuldbaren" Akt und fügte an: "Nichts rechtfertigt den Tod eines Jungen." Fast scheint es, dass es mit diesen Worten für den Staatschef nicht getan sein wird. Darmanin stellte jedenfalls für die zweite Nacht nach dem Todesfall 2.000 Einsatzpolizisten im Großraum Paris auf. (Stefan Brändle aus Paris, 28.6.2023)