Red Bull Racing hat bisher alle Saisonrennen gewonnen. Am Sonntag folgt in Spielberg die nächste Chance.
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Acht Rennen, acht Siege: Red Bull Racing dominiert die Formel-1-Saison. Max Verstappen gewann die vergangenen vier Rennen. Vor dem Grand Prix von Österreich (Sonntag, 15 Uhr, ORF 1) erklärt der frühere Mercedes-Ingenieur und Servus-TV-Experte Philipp Brändle, was den RB 19 aus technischer Sicht auszeichnet, worauf es bei einem Aerodynamikkonzept überhaupt ankommt und warum Verstappen noch nicht erneut Weltmeister ist.

STANDARD: Wie überlegen ist das Red-Bull-Auto?

Brändle: Am Anfang der Saison war es auf einer Qualifying-Runde, mit leerem Tank und weichen Reifen, brutal stark. Etwa eine Sekunde vor Mercedes, acht Zehntel vor Ferrari und sechs vor Aston Martin. Zum Glück hat sich das im Rennen ein bisschen relativiert. Red Bull hat immer noch das beste Auto, aber durch diverse Upgrades hat sich die Spitze enger zusammengeschoben. Mercedes hat Ferrari überholt, vielleicht sogar Aston Martin, wenn ein paar Sachen zusammenspielen. Red Bull profitierte vom starken vergangenen Jahr. Ein erfolgreiches Auto als Basis erleichtert die Weiterentwicklung. Die anderen müssen aufholen.

STANDARD: Konzentriert man sich als Doppelweltmeister im Winter darauf, mehr die Schwächen auszumerzen oder die Stärken auszubauen?

Brändle: Kommt drauf an, wie signifikant die Schwächen sind. Ein Beispiel: Wenn man in Monaco, Singapur und Budapest, wo viel Down-force (Abtrieb) benötigt wird, nicht so gut ist, kann man das akzeptieren, wenn man dafür alle anderen Rennen gewinnt. Wenn man so ein irrer Reifenfresser wie das Haas-Auto ist, muss man das ausmerzen.

STANDARD: Was zeichnet das Red-Bull-Auto aus?

Brändle: Es ist selten ein spezielles Bauteil, das ein Auto stark macht. Es kommt immer auf das Gesamtkonzept an. Red Bull hat eine andere Philosophie als die meisten anderen Teams. Sie wollen eine extrem stabile Vorderachse haben, damit man extrem spät bremsen kann. So wie das Max Verstappen gerne macht. Den Rest baut man quasi drumherum. Red Bull hat vorne eine Pullrod-Aufhängung. Das ist unüblich, hat sonst nur McLaren. Der Stab ist hoch am Rad und niedrig am Chassis angebracht. Wenn das Auto nach unten gedrückt wird, ist die Stange unter Zug. Dadurch hast du einen sehr niedrigen Schwerpunkt, dafür kinematische Nachteile. Das haben sie aber offensichtlich sehr gut in den Griff bekommen. Ein weiterer Nachteil ist: Wenn man etwas ändern will, müssen sich Mechaniker praktisch unter das Auto legen. Bei einer Pushrod-Aufhängung kommen sie leichter dorthin. Dort ist der Stab unten am Rad und hoch am Chassis montiert. Wenn das Auto nach unten gedrückt wird, drückt die Stange nach innen.

STANDARD: Sonstige Stärken?

Brändle: Der Honda-Motor ist heuer auch sehr gut und zuverlässig. Bei den Boxenstopps gehören sie nach wie vor zu den Besten. Strategiefehler machen sie auch nicht. Es ist nicht so, dass die Konkurrenz etwas verschlafen hätte. Red Bull hat einfach ein sehr gutes Gesamtkonstrukt. Wenn man ihren Frontflügel abmontieren und bei einem anderen Auto draufschrauben würde, würde das nicht funktionieren.

Formel 1 Brändle
Ex-Mercedes-Ingenieur Philipp Brändle analysiert für Servus TV die Formel 1.
Neumayr Leo/ServusTV

STANDARD: Verstappen ist seinem Teamkollegen Sergio Pérez enteilt. Wie sehr ist das Auto auf den Nummer-eins-Fahrer abgestimmt?

Brändle: Das ist die natürliche Evolution. Das Auto hat sich wegen Feedbacks so entwickelt, dass es eher zu Verstappens Fahrstil passt. Das liegt allein schon daran, dass er länger als Checo im Team ist. Hast du einen anderen Fahrstil, wirst du dir mit dem Auto schwerer tun.

STANDARD: Wie ist das beim RB 19?

Brändle: Normalerweise bevorzugen die Fahrer untersteuernde Autos. Das heißt, es schiebt eher über die Kurve hinaus. Man muss gefühlt immer ein bisschen mehr lenken, als man eigentlich sollen müsste. Aber das machen Fahrer gerne, weil das vorhersehbar und gut zu kontrollieren ist. Red Bull hat aber ein eher übersteuerndes Auto. Das ist schwieriger zu beherrschen, weil es so schnell passiert. Man sieht das oft bei Drehern. Verstappen kann das aber gut abfangen.

STANDARD: Warum neigt das Auto eher zum Übersteuern?

Brändle: Weil die Vorderachse so stabil gebaut ist und unfassbar viel Grip hat. Auch hier hat Red Bull eine andere Herangehensweise. Wenn man ein Auto für das Wochenende einstellt, fängt man normalerweise beim Heckflügel an. In Monaco wird kaum Topspeed benötigt, also will man möglichst viel Downforce kreieren. Dementsprechend muss man auch vorne auf viel Downforce gehen, damit das Auto eine gute aerodynamische Balance hat. Ist diese nicht vorhanden, neigt das Auto zum Über- oder Untersteuern. Red Bull macht es umgekehrt: Die geben vorne maximale Downforce und balancieren dann das Heck dementsprechend aus.

STANDARD: Pérez und Lewis Hamilton sind in Monaco verunfallt. Die Fahrzeuge wurden per Kran angehoben. Der Unterboden war sichtbar. Was bringt das der Konkurrenz?

Brändle: Als Ingenieur kennst du jede Kante deines Unterbodens und erkennst auch minimale Änderungen bei anderen Teams. Bei Mercedes haben wir eine Wissensdatenbank geführt. Da hast du dir überlegt, was die Konzepte der Mitbewerber sind. Jeden Montag waren bis zu zwei Stunden dafür reserviert. Dazu gab es den Performance-Tracker: Wenn Red Bull einen neuen Unterboden bringt und dann zwei Zehntel schneller ist, wusste man ungefähr, wie groß deren Entwicklungsrate ist. Kopieren geht aber trotzdem schwer. Das Konzept muss einfach zusammenpassen.

Der Unterboden von Red Bull Racing.
Der Unterboden von Red Bull Racing.
IMAGO/Motorsport Images/Mark Sutton
Der Unterboden von Mercedes zum Vergleich.
Der Unterboden von Mercedes zum Vergleich.
IMAGO/HOCH ZWEI

STANDARD: Wie entstehen Aerodynamikkonzepte?

Brändle: Fünf Bereiche sind zu beachten: Das Anbremsen vor der Kurve, da ist das Lenkrad noch gerade. Das Einlenken in die Kurve, der Kurvenscheitelpunkt, der Kurvenausgang und die Gerade, dort ist der Motor wichtig. Jedes Auto hat andere Stärken und Schwächen. Das hängt davon ab, was Teams priorisieren. Dafür schauen sie sich alle Kurven, Geraden und Strecken einer Saison an. Daraus ergibt sich ein Durchschnitt, den Teams unterschiedlich gewichten.

STANDARD: Beispiele?

Brändle: Williams fährt mit eher weniger Abtrieb, damit sie weniger Luftwiderstand haben. Auf einer Strecke wie Kanada passt das sehr gut. Alexander Albon wurde Siebenter. Dort gibt's eine lange Gegengerade, auf der man gut überholen kann. Verstappen fühlt sich beim Anbremsen wohl. Beim Topspeed und beim Kurvenausgang ist Red Bull auch sehr gut. Hamilton hat unlängst zu Max gesagt: "Your rear end is insane – euer Hinterteil ist super." Damit hat er nicht den Allerwertesten gemeint, sondern die Fahrzeuge. Die haben einen extremen Grip und können aus der Kurve heraus extrem beschleunigen. Damit hat sich Mercedes schon immer schwergetan. Die sind dafür in der Einlenkphase stark. Beim Scheitelpunkt hängt es von der Geschwindigkeit ab. Bei langsamen Kurven ist Red Bull vorne, bei mittlerer und hoher Geschwindigkeit angeblich bereits wieder Mercedes.

Mercedes, Lewis Hamilton.
Ein Mercedes.
APA/Getty Images via AFP/Jared C. Tilton

STANDARD: Für regelmäßigen Gesprächsstoff haben immer wieder die Seitenkästen gesorgt. Mercedes hat lange auf ein Zero-Sidepod-Konzept gesetzt, dieses aber zuletzt aufgegeben. Was war die Idee dahinter?

Brändle: Sie dachten offensichtlich, dass der Autoschwerpunkt mit einem schmalen Sidepot mittiger liegt, weil außen weniger Gewicht ist. Das Auto sollte weniger träge und flinker um die Kurven sein. Und sie wollten mehr Anströmung auf das Heck, den oberen Unterboden und den Diffusor bekommen. Die turbulente Luft hinter den Vorderrädern klebt aber auf der Karosserie. Und wenn diese wegen dünner Seitenkästen schmäler ist, hast du die schlechte Strömung auch weiter innen, und sie geht auf den Diffusor. Deshalb fand ich das Konzept schwierig. Trotzdem cool, dass sie es probiert haben. Mercedes war trotzdem dritt- bis viertbeste Kraft damit. Am Ende versuchen ja alle das Gleiche, nämlich die gute Luft ohne viel Verwirbelungen ans Heck zu bringen und die schlechte Luft davon wegzuhalten.

STANDARD: Wie entscheidet man, auf welches Konzept man setzt?

Brändle: Man geht von einer Baseline aus, also dem aktuellen Leistungsniveau. Bei neuen Ideen bewertet man dann in Punkten, wie weit sie von dieser Baseline entfernt sind. Fünf Punkte sind ungefähr ein Zehntel. Es kann sein, dass ein neues Konzept im Windkanal um 50 Punkte schlechter ist. Wenn man aber glaubt, dass viel Entwicklungspotenzial drinnen steckt, können solche Konzepte langfristig die jetzige Baseline überholen. Das sind schwierige Entscheidungen, das habe ich selbst einmal erlebt.

STANDARD: Wann?

Brändle: Ich habe 2016 den W-Unterboden mitentwickelt, der aussah wie die Hand von Wolverine. Das war ein super Konzept, weil es die Belastung vom Untergrund gut verteilen konnte. Am Anfang war es weit weg von unserer Baseline. Wir hatten aber bereits ganz am Anfang 20 Verbesserungsideen im Kopf. Eine Entwicklungsrate von fünf bis zehn Punkten pro Woche ist ideal. Es kann aber auch sein, dass man mehrere Wochen lang nur ein oder zwei Punkte findet. Dann wird es mühsam. Die Aerodynamik ist komplex. Man kommt mit verschiedenen Lösungen ans Ziel. Mit der Zeit ähneln sie sich dann, weil alle das schnellste Auto kopieren. Dann kommt es vermehrt auf Details an. Eines ist aber wichtig zu betonen.

STANDARD: Ja, bitte?

Brändle: Der Seitenkasten ist wegen seiner Größe auffällig, aber nicht entscheidend. Der Technische Direktor James Allisson sagte zuletzt, dass das wichtigste Mercedes-Upgrade die Vorderradaufhängung betraf. Entscheidend ist, wie die Luftströmung ganz vorne bearbeitet wird. Wenn der Frontflügel schon Mist baut, dann setzt sich das bis nach hinten fort.

STANDARD: Ferrari war letztes Jahr konkurrenzfähig, ist aber an vielen schlechten Entscheidungen gescheitert. Warum kommen sie heuer nicht in die Gänge?

Brändle: Auch eine solche Entscheidungskette ist ein Prozess und manchmal dauert es eben bis Prozesse geändert sind oder die Änderungen dann greifen. Man hat zum Beispiel in Montreal eine fehlerlose Strategie gesehen und sie haben alles richtig gemacht. Erst Track-Position behalten, dann erst später gestoppt. Also vielleicht war das der Anfang dieser besseren Prozesse, aber es wird sich zeigen. Definitiv lässt sich aber auch sagen, dass insgesamt die Entwicklung über den Winter nicht so gut war wie bei den anderen Topteams. Relativ gesehen sind sie ein wenig zurückgefallen.

Philipp Brändle
Philipp Brändle hat den technischen Durchblick.
ServusTV/Neumayr/Leo

STANDARD: Red Bull hat weniger Windkanalzeit, weil sie Konstrukteursweltmeister wurden und eine Cost-Cap-Strafe bekommen haben. Wird sich das auswirken?

Brändle: Mein Gefühl ist, dass sie extrem viel für den Anfang der Saison entwickelt haben. Dazu hatten sie letztes Jahr bereits ein dominantes Auto und das war natürlich auch für dieses Jahr bereits ein großer Vorteil. Sie haben also den Sprung der Regularien am besten gemeistert. Deshalb waren sie so weit vorne. Ich glaube, dass die kommenden Updates bei Red Bull nicht mehr so signifikant sein werden wie bei anderen Teams. Die Konkurrenz hat Potenzial, Richtung Saisonende mehr herauszuholen. Deshalb ist noch nicht hundertprozentig sicher, dass Max Weltmeister wird. Nicht einmal die erste Saisonhälfte ist vorbei. Die Messe ist noch nicht gelesen.

STANDARD: Was ist Red Bulls Schwäche?

Brändle: Ein Team ist nur dann absolut dominant, wenn beide Fahrer alles in Grund und Boden fahren. Wenn nur noch die Frage ist, wer Erster oder Zweiter wird. Red Bull müsste also Checo Pérez stärker machen. Der hat sich zuletzt leider mit diversen Fehlern etwas ins Abseits geschossen. Wenn er so weitermacht, könnten sie den Konstrukteurstitel verpassen. Ferrari oder Mercedes haben ausgeglichenere Teams. Bei Aston Martin ist Alonso die klare Nummer eins und Lance Stroll nur Mittelmaß. (Andreas Gstaltmeyr, 29.6.2023)