Im Gastblog gibt Sarah Spiekermann einen Ausblick auf gesellschaftliche Fragen, die sich beim Umgang mit künstlicher Intelligenz stellen.

Im Jahr 2022 ist ein Ereignis eingetreten, das der französische Philosoph Alain Badiou wahrscheinlich als ein Wahrheitsereignis einordnen würde: Wir Nutzer und Nutzerinnen der digitalen Medien hatten das erste Mal den Eindruck, dass wir Kontakt aufnehmen mit einer echten künstlichen Intelligenz. Innerhalb von fünf Tagen hatte ChatGPT eine Million Nutzer und Nutzerinnen; mittlerweile, nur sechs Monate später, sind es schon über 100 Millionen.

Badiou definiert solche Wahrheitsmomente als "metaphysische Sprünge": Ereignisse, die eine radikale Abkehr von der gegenwärtigen Existenz bedeuten. Man fängt an das eigene Handeln neu auszurichten. So gibt es heute kaum eine Firma oder Branche, die nicht darüber nachdenkt, wie sie GenAI systematisch einsetzen kann. GenAI, das ist die Abkürzung für Generative AI, zu Deutsch "generische künstliche Intelligenz", die ich hier verwende, um mich auf das Phänomen GPT zu beziehen.

ChatGPT-Logo
Unsere Politiker und Politikerinnen sollten sich dringend mit den Auswirkungen von ChatGPT befassen und entsprechende Gesetze einführen.
Foto: IMAGO/NurPhoto/Nikos Pekiaridis

Der britische Telekommunikationsanbieter BT Group hat bereits angekündigt, 10.000 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen durch KI zu ersetzen. Weltweit belaufen sich Schätzungen auf 300 Millionen betroffene Arbeitsplätze. Universitäten und Schulen passen ihre Lern-, Lehr- und Prüfungsangebote an. Viele Hochzeits- und Begräbnisreden sind schon mit ChatGPT geschrieben worden. Und Arbeitgeber und Arbeitergeberinnen ärgern sich, dass jetzt auch ihre Bewerber und Bewerberinnen KI einsetzen, um Motivationsschreiben zu optimieren; dabei haben sie doch selbst seit Jahren KI im Einsatz, um ihrerseits Bewerbungen vorzusortieren.

Nur noch "Kleinigkeiten" zu lösen

Man kann also sagen: Mit GenAI ist etwas Neues in die Welt gekommen. Ja, mehr noch: Viele glauben jetzt bestimmt, dass wir kurz vor der Entwicklung des von Transhumanisten heraufbeschworenen "Übermenschen" stehen oder dem Auftauchen einer "Superintelligenz". Letzteres glaube ich ganz sicherlich nicht, denn schon beim Ausrollen von ChatGPT-ähnlichen Softwarediensten gibt es noch ein paar "Kleinigkeiten" zu bedenken, um die es in dieser sechsteiligen KI-Serie gehen soll. Kleinigkeiten, die aufgrund ihrer Auswirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft gar nicht so klein sind, wie sie kleingeredet werden, und die wahrscheinlich auch langfristig nicht vollständig lösbar sind.

Genau genommen handelt es sich um

  • ein paar gar nicht kleine technische Probleme, die Enthusiasten meinen nur noch technisch "fixen" zu müssen; etwa jenes, dass die GenAIs wie ChatGPT die Privatsphäre, die Würde, die Wahrheit, die Gleichheit und das Urheberrecht frontal angreifen.
  • ein paar gesellschaftliche Herausforderungen, an die wir uns nur noch gewöhnen müssen; nämlich die, dass durch die neuen KI-Systeme nebst einer Welle von Entlassungen die ökonomisch hochrelevanten Werte der Verantwortung, des Vertrauens und des Wissens untergraben werden.
  • ein paar politische Entwicklungen, die wir nicht so gerne wahrhaben wollen; nämlich die, dass durch die neue Generation KI unsere Freiheit, Datensouveränität, IT-Betriebssouveränität, unsere Innovationsfähigkeit, der Umweltschutz und die nationale Resilienz leiden.
  • ein paar Missverständnisse; etwa jenes, dass die neuen künstlichen Intelligenzen gar nicht "intelligent" sind oder irgendwie menschenähnlich, obwohl sie so auf uns wirken.

Alle diese vier Problemkreise wurden am 26. Juni dem österreichischen Nationalrat vorgetragen und sollen hier exklusiv über den STANDARD geteilt werden. Daran anschließend folgt der sechste Teil dazu, wie die österreichischen Politiker und Politikerinnen aus meiner Sicht mit den Herausforderungen durch KI umgehen könnten. (Sarah Spiekermann, 3.7.2023)