Geht es nach Michael Kofman, einem weithin angesehenen Militäranalysten beim US-Thinktank Carnegie Endowment, könnte nicht einmal eine Woche nach der Meuterei der Wagner-Söldner von Jewgeni Prigoschin am vergangenen Samstag eine ausgewachsene Säuberungswelle durch die russische Armee gehen. Russlands Präsident Wladimir Putin dürfte sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, in den Reihen der Streitkräfte und ihrer Kommandanten nach Köpfen zu suchen, die seiner Meinung nach nicht loyal genug sind – um diese dann rollen zu lassen.

Sergej Surowikin (li.) und Sergej Schoigu.
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Prigoschin habe vermutlich damit gerechnet, dass der Kreml Verteidigungsminister Sergej Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimow fallen lässt, sobald er mit seinem "Marsch der Gerechtigkeit" genügend Druck aufbaut. Doch habe er sich wohl getäuscht: "Stattdessen könnte seine Meuterei dazu führen, dass die beiden in ihren Ämtern sogar noch bestätigt werden, obwohl sie weithin als inkompetent betrachtet werden und viele in der Armee sie verachten."

Surowikin möglicherweise verhaftet

Und auch sonst zeitigt der vor den Toren Moskaus vorzeitig abgebrochene Aufstand der Prigoschin-Truppen bis heute Folgen: Russische Medien berichten, dass der Inlandsgeheimdienst FSB den einstigen Prigoschin-Vertrauten Sergej Surowikin, den Stellvertreter und Vorgänger Gerassimows als Kommandant der Ukraine-Invasion, auf seine Loyalität gegenüber Putin abgeklopft habe; die Financial Times meldete am Donnerstag, dass "General Armageddon" bereits verhaftet worden sei. Bisher hat der Kreml die Gerüchte, wonach Surowikin Prigoschins Pläne zumindest vorab gekannt haben soll, aber bloß als "Geschwätz" abgetan. Öffentlich aufgetreten ist der General jedenfalls nicht mehr, seit er am Samstagabend mit Kalaschnikow im Schoß die Söldnerbande zum Aufgeben gedrängt hat.

Auch von Generalstabsschef Gerassimow, dessen Auslieferung Prigoschin während seiner Meuterei gefordert hatte, fehlte bis Donnerstagabend jede Spur. Er gehört gemeinsam mit Putin und Schoigu zum kleinen Kreis jener, die über einen Atomwaffeneinsatz entscheiden. Das Institute for the Study of War (ISW) geht davon aus, dass Putin versuchen wird, gleichzeitig auf die Kritik der Wagner-Rebellen einzugehen und mögliche Sympathisanten der Meuterei abzuschrecken. "Der Kreml sieht die Unbeliebtheit Schoigus und Gerassimows als direkte Bedrohung der Fähigkeit Putins, sich weiter die Unterstützung wichtiger Kreise und des Militärs zu sichern", heißt es dort. Gerassimows Rolle als Kommandierender der Ukraine-Invasionstruppen könnte womöglich bald auf ein eher zeremonielles Maß zurechtgestutzt werden, auch wenn Putin ihn wohl nicht ganz abberufen dürfte, so wie es sich Prigoschin gewünscht hatte.

Das britische Verteidigungsministerium erklärte in seiner täglichen Geheimdienstupdate, dass die Moral der russischen Streitkräfte in der Ukraine durch den Abschuss von mehreren Hubschraubern und eines Flugzeuges durch die Wagner-Truppen geschwächt worden sein dürfte. Vor allem der Verlust eines Il-22-M-Flugzeuges schmerze Moskau, heißt es aus London. Dieses gilt als fliegende Kommandozentrale, gerade einmal zwölf Stück des wertvollen Fluggeräts befinden sich in den Hangars der Armee.

Ukraine verhört angeblichen Verräter

Die russischen Raketenangriffe auf zivile Einrichtungen in der Ukraine gehen trotz des Chaos in Moskau unvermindert weiter. Die Zahl der Opfer, die ein Raketenangriff auf eine belebte Pizzeria in der ostukrainischen Stadt Kramatorsk am Dienstagabend gefordert hat, ist am Donnerstag auf zwölf gestiegen, darunter zwei 14-jährige Zwillingsmädchen. 60 Menschen wurden laut vorläufiger Bilanz verletzt.

Die ukrainischen Behörden haben indes einen Mann verhaftet, dem sie Verrat vorwerfen: Der Angestellte einer benachbarten Tankstelle habe der russischen Armee ein Video geschickt, das Armeefahrzeuge auf dem Parkplatz der Pizzeria zeigt. "Jeder, der den russischen Terroristen hilft, Leben zu zerstören, verdient die Maximalstrafe", sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Donnerstagabend in einer Videoansprache. (Florian Niederndorfer, 29.6.2023)