Viele Sympathisanten von Rechts-außen-Parteien, hier etwa im vergangenen Jahr bei einer Veranstaltung in Texas, sehen Ungarns Premier Viktor Orbán als "Führer Europas".
Foto: Reuters / Brian Snyder

Autokratien, die aus Wahlen hervorgehen und ihre Macht durch neue rechtliche Verhältnisse zementieren, sind das Spezialgebiet von Kim Lane Scheppele. Am Donnerstag sprach sie im Presseclub Concordia über Ungarn.

STANDARD: FPÖ-Chef Herbert Kickl hat gesagt, er würde es "wie der Orbán machen", wenn er an der Macht wäre. Falls es so weit kommt: Worauf sollte man in Österreich achten?

Scheppele: Das Gefährliche an Orbán ist nicht nur seine Rhetorik, sondern die Tatsache, dass er seine Macht konsolidiert, indem er Gesetze ändert und Institutionen unter seine Kontrolle bringt. Und zwar so, dass man gegen ihn keine Wahlen mehr gewinnen kann.

STANDARD: Welche Bereiche betrifft das?

Scheppele: Zum Beispiel die Medien. Für unabhängige Medien ist es sehr schwer, unabhängig zu bleiben. Das funktioniert etwa über teure Klagen oder über den Entzug von Inseraten. Dabei geht es zuerst um Regierungsinserate, dann aber auch um Inserate von Privatfirmen. Ihnen wird gedroht, dass sie keine staatlichen Aufträge bekommen, wenn sie in Medien werben, die der Regierung nicht genehm sind. Der mediale Raum wurde dadurch zu einer Echokammer für Orbán.

STANDARD: Es gibt aber noch unabhängige Medien in Ungarn.

Scheppele: Autokratien neuen Typs trachten immer danach, dass es ein paar kleine unabhängige Medien gibt. Auf diese Art können sie sagen: Seht her, wie demokratisch wir sind!

"Was Österreich vielleicht rettet, ist die Komplexität seines politischen Systems", sagt Kim Lane Scheppele.
Gerald Schubert

STANDARD: Ungarn wird – wie auch Polen – vorgeworfen, die Unabhängigkeit der Justiz nicht anzuerkennen. Zu Recht?

Scheppele: Es begann mit dem Verfassungsgericht. Orbán änderte nicht nur die Verfassung, sondern auch die Regeln, nach denen Verfassungsrichter ernannt werden. Danach kamen die normalen Gerichte an die Reihe. Die Regierung kontrolliert mittlerweile alle Gerichtspräsidenten. Diese können Fälle nach Belieben bestimmten Richtern zuweisen. "Normale" Fälle werden also an irgendwen vergeben, aber wenn ein Fall der Regierung wichtig ist, dann kommt er in loyale Hände. Auch hier gilt also: Sie müssen gar nicht das gesamte Justizsystem kapern. Es reicht, genügend freundlich gesonnene Richterinnen und Richter zu haben.

STANDARD: Das wichtigste Argument Orbáns und seiner Unterstützer lautet: Wir haben wiederholt Wahlen gewonnen, unsere Politik ist demokratisch legitimiert.

Scheppele: Hier kommen die Wahlgesetze ins Spiel. Orbán hat etwa die Zahl der Abgeordneten halbiert. Die Idee war populär, aber der Schritt gab ihm auch die Möglichkeit, neue Wahlbezirke zu schaffen. Nach der Wahl 2014 gewann seine Partei Fidesz mit 43 Prozent der Stimmen 91 Prozent der Wahlbezirke. Zusätzlich zu den Direktwahlmandaten werden zwar auch Mandate über Parteilisten vergeben, aber am Ende reichte es für zwei Drittel der Sitze.

STANDARD: Wie kann sich ein Staat gegen solche Schritte wappnen?

Scheppele: Autokraten werben oft dafür, das politische System "effektiver" machen zu wollen – zum Beispiel durch die Abschaffung der zweiten Parlamentskammer, die nur unnötig Geld koste. Dem sollte man widerstehen. Eine gewisse Ineffizienz kann für den Staat sogar gut sein. Andernfalls entstehen für die Regierenden sozusagen "Autobahnen" auf dem Weg zu noch mehr Machtfülle. Was Österreich vielleicht rettet, ist die Komplexität seines politischen Systems.

STANDARD: Aufregung gibt es auch über Orbáns Umgang mit Universitäten. Die vom liberalen US-Milliardär George Soros gegründete Central European University (CEU) wurde aus dem Land gedrängt und siedelte sich in Wien an. Gleichzeitig hat ein Orbán-naher Thinktank einen Großteil der Wiener Privatuni Modul University gekauft. Was steckt da dahinter?

Scheppele: Das ist noch nicht klar. Ungarns Regierung hat nicht viel Geld, zumal die EU Mittel für Ungarn zurückhält. Eine Möglichkeit ist: Die Regierung hat noch kein deutschsprachiges Trainingscamp für Rechts-außen-Politiker. In Österreich ist die Möglichkeit, dass es bald eine Fidesz-freundliche Regierung gibt, durchaus gegeben. Also kann es schon sein, dass Orbán hier einen ideologischen Außenposten für die deutschsprachige Welt errichten will.

STANDARD: Budapest steht im Dauerkonflikt mit Brüssel. Die EU wirft Ungarn mangelnde Rechtsstaatlichkeit vor und hält etwa 30 Milliarden Euro an Förderungen für das Land zurück. Nun hat Justizministerin Judit Varga ihren Rücktritt angekündigt, angeblich soll sie nach Brüssel gehen. Sehen Sie da einen Zusammenhang?

Scheppele: In Ungarns Presse kann man lesen, dass Leute, die die Gunst Orbáns verlieren, immer nach Brüssel geschickt werden. Aber ich sehe das nicht so. Im Gegenteil: Judit Varga ist essenziell für Orbán. Seine nächste Station ist die EU. Und Varga ist extrem effektiv und rhetorisch geschickt. Ungarn übernimmt in der zweiten Jahreshälfte 2024 die EU-Ratspräsidentschaft. Das heißt, ab Samstag gehört das Land zur Triopräsidentschaft, in der dann das neue Vorsitzland Spanien sowie die beiden Nachfolger Belgien und Ungarn vertreten sind. Da kann Judit Varga eine wichtige Rolle spielen.

STANDARD: Orbán hat immer wieder gedroht, EU-Sanktionen zu blockieren. Meistens lenkt er am Ende ein, manchmal setzt er Änderungen durch. Worauf zielt diese Strategie ab?

Scheppele: Manchmal nutzt Orbán sein Vetorecht, um tatsächlich etwas zu verhindern. Manchmal benutzt er es aber auch als Hebel für etwas anderes. Ich glaube, bei den Russland-Sanktionen geht es ihm um zwei Punkte: Einerseits hilft es ihm, Putin zum Freund zu haben und Punkte in Russland zu sammeln. Aber er will wohl auch nationalistische Emotionen schüren, mit Blick auf die ungarische Minderheit in der Westukraine.

STANDARD: Gemeinsam mit der Türkei blockiert Ungarn den Nato-Beitritt Schwedens. Warum das?

Scheppele: Gerade endet Schwedens EU-Ratspräsidentschaft, die stark auf Rechtsstaatlichkeit ausgerichtet war. Ich glaube, Orbán wollte da bremsen und hielt deshalb die Zustimmung zum Nato-Beitritt zurück. Das ungarische Parlament sollte nächste Woche darüber beraten, das wurde nun auf September vertagt. Aber ich denke, Orbán wird nicht der Letzte sein wollen. Er wird wohl auf die Türkei warten und dann ebenfalls zustimmen. (Gerald Schubert, 30.6.2023)