Ein Shinkansen, ein Hochgeschwindigkeitszug, verlässt Tokio
Superschnell unterwegs. Auf den Shinkansen ist man in Japan stolz.
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“Wie viele Tickets haben wir?" Zwanzig Hände schnellen hoch – mit ihnen je zwei säuberlich nummerierte Fahrkarten zwischen Daumen und Zeigefinger. Dann geht die Reise mit dem pfeilschnellen Shinkansen am Bahnhof Tokio los. Lange bevor sie in den berühmten, schnittigen Hochgeschwindigkeitszug mit der markanten langen Schnauze steigt, erhält die Reisegruppe aus Österreich peinlich genaue Instruktionen. Während die Schülerinnengruppe in weiß-blauen Uniformen auf dem weiten Bahnhofsvorplatz gesittet ihren Lehrern zuhört, setzt es für die Österreicher einen dringlichen Ordnungsruf: "Bitte jetzt alle folgen." Aus gutem Grund, wie sich bald herausstellen wird: Gemütlich durch das hinter der roten Backsteinfassade verborgene Labyrinth zum Zug zu schlendern ist hier nicht angebracht.

Am Bahnhof herrscht trotz der frühen Morgenstunde geschäftiges Treiben. Superpünktlich, supersauber, gut organisiert, das sind Japans Eisenbahnen. Als Rückgrat gilt der Shinkansen. Superschnellzüge, bewundert in aller Welt für ihre Pünktlichkeit. Es gibt so gut wie keine Verspätungen. Wie machen die das? Die Erkundung vor Ort ist aufschlussreich.

Wichtige Nebeneinnahmen

Der Anfang- und Endpunkt der Shinkansen-Linien ist auch Heimatbahnhof von JR East, der einst staatlichen Bahngesellschaft. Für Unkundige ist es ein Irrgarten – und ein Gastronomie-Imperium mit Bahnanschluss. Geschäfte, Take-aways und Restaurants sind gut besucht. Sie sind Teil des Geschäftsmodells, Bahngesellschaften wie JR East betreiben Warenhäuser, besitzen Hotels, vermieten Bürotürme und lukrieren damit einen wichtigen Teil ihrer Profite. Der schier unerschöpfliche Strom an Passierenden in den Metropolen trägt dazu bei – mit Fahrscheinen, aber auch mit jedem Mochi, das beim Umsteigen rasch verspeist wird. Die Menschen streben eilig den Gleisen auf mehreren Etagen zu.

Noch formiert sich die österreichische Reisegruppe – die Tickets in der Hand. Um zu den Gleisen zu gelangen, müssen alle durch ein Ticket-Gate, das kaisatsu guchi – streng beobachtet von blau uniformierten Bediensteten. Papierticket in den dafür vorgesehenen Schlitz schieben, damit sich die Schranken öffnen. Auf der anderen Seite wird die Platzkarte wieder ausgespuckt. "Bitte unbedingt mitnehmen", lautet die strenge Anweisung – bestimmt zum zehnten Mal. Noch wird über den Kommandoton geschmunzelt. Den ersten Automaten haben alle passiert. Dann heißt es eilen, statt staunend zu verweilen.

Reisende unterwegs im Bahnhof von Tokio zu den Gates für den Hochgeschwindigkeitszug Shinkansen.
Japan ist ein Eisenbahnland – dank des dichten Netzes an Hochgeschwindigkeitszügen kommt man rasch in viele Ecken des Landes.
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Der Tokio-Bahnhof nahe dem Kaiserpalast ist einer der verkehrsreichsten Bahnhöfe Japans. Tokio ist der wichtigste Knoten des Shinkansen-Streckennetzes. Das große Netz an Hochgeschwindigkeitszügen gilt als einer der Erfolgsfaktoren der Bahn in Japan. Die Züge auf den "neuen Hauptstrecken", so die Bedeutung von "Shinkansen", fahren auf einem eigenen Schienennetz bis nach Hakodate im Norden und Fukuoka im Süden – mit einer Höchstgeschwindigkeit von 320 km/h. In einigen Jahren sollen es über 500 sein. Die erste Shinkansen-Verbindung von Tokio nach Osaka wurde zu den Olympischen Spielen 1964 eröffnet – der Zug fuhr damals auf der 515,4 km langen Strecke mit bis zu 220 km/h und war damit der schnellste der Welt. In Deutschland und Österreich ging der erste ICE 1991 auf die Schiene mit bis zu 280 km/h.

Hohe Geschwindigkeit, viele Reisende und Züge sowie der Umstand, dass ein Auto mit hohen Kosten verbunden ist, führen dazu, dass in Japan heute 30 Prozent des Personenverkehrs auf Schienen stattfinden. In Österreich waren es 2019 knapp 19 Prozent.

Viele Pendler nutzen die Bahn, weil sie schneller als Auto und Fahrrad ist und weil der Arbeitgeber das finanziell unterstützt. In Metropolen wie Tokio erscheint der Pkw-Verkehr fast schaumgebremst. Dafür wurlt es an den Bahnhöfen. Der Weg zu Wagon 10 im Zug Nozomi 11 – Abfahrt 7.30 Uhr – führt über mehrere Etagen und um zahlreiche Ecken. Der Nozomi ist der Super-Express, der nur selten hält. Bei der Premiere 1992 schrumpfte die Fahrzeit von Tokio zur Hafenstadt Osaka auf zweieinhalb Stunden. Gut 30 Jahre später ist der Nozomi die Standardverbindung, die pro Stunde bis zu zwölf Mal zwischen Tokio und Osaka, das 2025 die Weltausstellung beherbergen wird, verkehrt. Dementsprechend hoch ist das Passagieraufkommen zu Spitzenzeiten.

Sandkorn im Getriebe

Wer ziellos stehen bleibt oder auf der Rolltreppe nicht brav zur Seite rückt, erntet verständnislose Blicke. Niemand will hier das Sandkorn im Getriebe sein. Fährt ein Zug unpünktlich, wird das schnell zur Affäre. Japans Züge zählen zu den pünktlichsten der Welt, und so war es eine große Geschichte, die eine "zutiefste" Entschuldigung für die "schweren Unannehmlichkeiten" und eine interne Untersuchung zeitigte, als ein Zug der JR West, neben JR East einer der sieben Nachfolger der 1987 privatisierten Staatsbahn, am Bahnhof Notogawa um 7.11 Uhr und 35 Sekunden abfuhr – statt planmäßig um 7.12 Uhr. Hat ein Zug zehn Sekunden Verspätung, wird das angezeigt. Die durchschnittliche Verspätung der Shinkansen-Züge soll rund eine Minute pro Jahr ausmachen. Im Vergleich dazu herrscht hierzulande Schlendrian – als pünktlich gilt ein Zug, wenn er maximal fünf Minuten und 29 Sekunden verspätet ist. Damit an den Bahnhöfen alles flott vonstattengeht, zeigen Markierungen auf dem Boden, an welcher Stelle welche Wagontür halten wird.

Ein Angestellter von Japan Railways schaut auf seine Uhr, während er neben einem Shinkansen-Hochgeschwindigkeitszug in einem Bahnhof steht
Zug fährt ab. Pünktlich wie die Uhr.
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Mit ein Grund, warum das alles funktioniert, ist Disziplin – des Personals und der Reisenden. In Japan gibt es Regeln für alles – ungeschriebene meist, eine davon ist: in der Bahn nicht telefonieren oder laut sprechen. Regelmäßig wandelt ein Bediensteter mit großem Papiersack durch die Wagons, um jedweden Unrat einzusammeln. Die Züge, Bahnhöfe und Toiletten sind blitzsauber, das Personal ist höflich. Man traut als Fahrgast seinen Augen kaum: Im Nozomi gibt es noch gut gelüftete und abgeschirmte Rauchernischen.

Für den Erfolg ist anderes ausschlaggebend. Nachts stehen die Züge still. Der letzte Shinkansen erreicht Tokio um Mitternacht. Dann rollen Bauzüge auf Trassen und reparieren Schienen und Weichen. Strecken lange stillzulegen ist undenkbar. Die Kehrseite der Medaille – die Mitarbeiter stehen unter enormem Druck: Weil ein Lokführer einen Zug eine Minute verspätet abstellte, kürzte ihm der Arbeitgeber das Gehalt. Auch wenn sich der Mann vor Gericht erfolgreich wehrte, an der strikten Kultur ändert das wenig: Ein paar Sekunden Verspätung, schon wird das Personal zur Disziplinarschulung abkommandiert: Züge putzen, Entschuldigungsbriefe schreiben. Für manche ist der Preis für die Präzision hoch.

So einfach zu kopieren ist das System nicht, meint Sebastian Kummer, Vorstand des Instituts für Transportwirtschaft und Logistik an der Wirtschaftsuni Wien. Allein schon, dass die Züge auf einem eigenen Netz fahren und damit weniger störungsanfällig sind, mache einen großen Unterschied. In Österreich gibt es das nicht, in Deutschland auf einigen Neubaustrecken.

Ein Mitarbeiter geht mit einem großen Papiersack in der Hand durch den Zug und sammelt Papierchen und anderen Unrat ein.
Supersauber. Service ist hohes Gut.
Regina Bruckner

Service wird großgeschrieben

Dazu kommt eine andere Mentalität: Service wird in Japan großgeschrieben. Nicht nur, aber auch bei der Bahn. "Das Qualitätsverständnis ist bei den japanischen Bahnen viel höher als bei ÖBB, Deutscher Bahn, aber auch bei vielen anderen europäischen Bahnen", urteilt Kummer. Noch einen Unterschied nennt er: "Wir konzentrieren uns in Deutschland und Österreich vor allem auf die Preispolitik in Form des 49-Euro-Tickets in Deutschland und in Österreich in Form des Klimatickets." Der Service da wie dort sei "völlig unakzeptabel", und auch in Österreich habe die ÖBB die Pünktlichkeitsziele für 2022 nicht erreicht. In Japan ist Zugfahren speziell mit dem Shinkansen sauteuer. Je schneller und komfortabler, umso mehr kostet es.

Auch deswegen wusste die österreichische Reisegruppe am Ende, warum sie ihre Fahrkarten hüten sollte wie ihren Augapfel. Der Verlust der Platzkarte einer Reiseteilnehmerin sorgte für Stillstand am Ticket-Gate und für Aufruhr im Getriebe des Bahnhofs. Das uniformierte Personal sprang eilig aus dem Glashäuschen hervor, als sich der Schranken mangels gültiger Platzkarte erbarmungslos schloss. Selbst mit langatmigen Erklärungen – in der Landessprache – gegenüber dem Personal war nichts ohne neue Fahrkarte zu machen. Auch nicht mit österreichischem Charme. Vorschrift ist Vorschrift. (Regina Bruckner, 3.7.2023)

Anmerkung: Ursprünglich stand im Artikel dass in Japan heute 30 Prozent des Individualverkehrs auf Schienen stattfinden. Gemeint ist der Personenverkehr. Wir bedauern den Fehler.

Die Reise nach Tokio erfolgte mit Unterstützung des Expo-Büros von WKO und Wirtschaftsministerium.