Wenn Menschen an die Zukunft denken, tendieren sie dazu, sich fantasievoll an Horrorszenarien festzukrallen und näherliegende Risiken zu übersehen. Das ist gerade wieder beim Thema der künstlichen Intelligenz (KI) der Fall.

Wir brauchen eine breite Diskussion über Bereiche, in denen KI der Menschheit kolossalen Fortschritt bringen wird.
IMAGO/Luka Stanzl/PIXSELL

Spracherkennung, maschinelles Sehen und Lernen werden unser Leben umwälzen. Die Wirtschaft wird einen Produktivitätsschub erleben. Neue Berufe entstehen. Alte Berufe werden verschwinden, genauso wie es keine Fassbinder oder Bordingenieure mehr gibt. Alle Berufe werden sich transformieren. Kassandras sind überzeugt, dass dabei hunderte Millionen Jobs verschwinden werden. Solche Katastrophenszenarien gibt es seit der Erfindung des mechanischen Webstuhls – aber weniger Arbeit gab es weder durch Webstuhl noch durch Computer. Noch nie gab es so viele Werktätige wie heute. Wie schon über die letzten Jahrhunderte muss das Ziel sein, dass wir einen guten Teil des Fortschritts in mehr Freizeit und mehr Wohlstand beziehen.

Prominente wie Sam Altman (CEO von OpenAI) und Demis Hassabis (Deepmind-Gründer) haben andere Sorgen. Sie meinen, dass "die Minderung des Risikos der Auslöschung der Menschheit durch KI eine globale Priorität" sein sollte. Jaan Tallinn, Gründer des Centre for Existential Risk in Cambridge, meint, dass wir im Zeitalter des unüberwachten Lernens leben. Die Maschine bekommt riesige Mengen an Daten und findet heraus, wie sie schlauer wird, ohne dass der Mensch sie überwachen kann. Tallinn meint, dass die KI in fast allen Zukunftsszenarien keine Menschen mehr brauchen und daher die Lebensgrundlagen der Menschheit absichtlich oder unabsichtlich zerstören wird – ähnlich dem, was der Mensch anderen Säugetieren angetan hat.

KI-Weltuntergang

ChatGPT ist eine Form der KI, ein statistisches Programm, das Wahrscheinlichkeiten berechnet. Dessen Prognosen werden immer besser, was uns beim Chatten zum Glauben verleitet, dass es Bewusstsein entwickelt. Es ist unmöglich zu prognostizieren, was in Jahrzehnten passieren wird. Die Gefahr, die Tallinn sieht, wird von der Mehrzahl der Experten nicht geteilt.

Das sollte uns nicht davon abhalten, aktuelle Probleme zu erkennen. Jeremias Adams-Prassl, Professor an der Oxford University, schließt nicht aus, dass die Rede vom KI-Weltuntergang eine Strategie sei, um von derzeitigen Regulierungsbemühungen abzulenken. Das Potenzial zum Missbrauch ist enorm. Im Bereich des Arbeitsrechts, der Finanzindustrie oder des Konsumentenschutzes, zum Beispiel, entstehen Risiken neuer Art. Da KI-Modelle aus existierenden Daten lernen, reflektieren sie die darin enthaltenen Vorurteile oder Diskriminierung. Urheberrecht muss neu gedacht werden, wie auch die Haftung für den Output von KI.

Wir brauchen eine breite Diskussion über Bereiche, in denen KI der Menschheit kolossalen Fortschritt bringen wird – Diagnostik, Pharmazeutik, Betrugsbekämpfung und vieles mehr –, und Bereiche, "wo es höchst fragwürdig wäre, sie auf statistische Modelle loszulassen – zum Beispiel bei der Beurteilung von Mitarbeitern und zur Einschätzung der Glaubwürdigkeit von Zeugen," meint Adams-Prassl.

Der Weltuntergang ist unwahrscheinlich, aber wir müssen rasch lernen, mit KI zu leben – und sie zu bändigen. (Veit Dengler, 2.7.2023)