Sie erweckt den Anschein, ein gallisches Dorf geworden zu sein, kämpft allerdings nicht erfolgreich gegen die Römer, sondern gegen die Teuerung. Die Rede ist von der Schweiz. Während in den meisten Industrieländern die Inflation weiter hoch bleibt und weit über den Zielwerten der jeweiligen Nationalbank liegt, ist es in der Schweiz anders. Die Inflation ist dort im Juni auf 1,7 Prozent gesunken, nach 2,2 Prozent im Mai, wie das eidgenössische Bundesamt für Statistik am Montag bekanntgab.

Zum Vergleich: In Österreich lag die Inflation im Juni bei acht Prozent, in der Eurozone bei 5,5 Prozent.

Die Schweizerische Nationalbank peilt eine jährliche Teuerungsrate von null bis unter zwei Prozent an. Und auch wenn sie übers Jahr gerechnet dieses Ziel knapp verfehlen dürfte, wird die Abweichung überschaubar sein. Wie macht das die Schweiz? Aus Gesprächen mit Expertinnen und Experten sowie den Einschätzungen der eidgenössischen Zentralbank lassen sich fünf Gründe herauskristallisieren.

Viel Geld gedruckt – und den Franken geschwächt

Die Schweiz ist ein Exportweltmeister. Das Land fährt laufend hohe Exportüberschüsse ein, exportiert also mehr Waren und Dienstleistungen ins Ausland, als es einführt. 2022 setzte es für die Schweiz den höchsten Leistungsbilanzüberschuss seit gut zehn Jahren. Die Einnahmen aus dem Verkauf von Maschinen, Pharmaprodukten und Uhren auf der ganzen Welt werden zu einem guten Teil wieder in der Schweiz veranlagt, sagt Alexander Rathke von der Konjunkturforschungsstelle der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich.

Die Exporteure kaufen also mit einem Gutteil der eingenommenen Dollar, Euro und Yen wieder Franken ein, was eine stetige Nachfrage nach der Währung schafft und den Franken im Kurs steigen lässt. In den vergangenen drei Jahren hat der Franken im Vergleich zum Euro um gut acht Prozent aufgewertet. Die Folge: Importierte Waren werden für die Schweizer billiger oder verteuern sich nicht so stark wie ohne erstarkende Währung. Das trifft natürlich auch für in Dollar gehandelte Produkte wie Erdöl zu.

Übrigens: Dass die Schweiz eine sehr strenge Währungspolitik verfolgt hat, während die Europäische Zentralbank (EZB) die Schleusen geöffnet und die Märkte mit Geld geflutet hat, stimmt nicht. Die Schweizer Nationalbank war sogar gemessen an ihrer Bilanz noch aktiver als die EZB beim Gelddrucken: In den vergangenen zehn Jahren hat die Zentralbank ihre Bilanz im Umfang von 100 Prozent der Schweizer Wirtschaftsleistung aufgebläht. Die EZB war nicht ganz so aktiv. Die Notenbank der Eidgenossen kaufte mit dem gedruckten Geld vor allem ausländische Finanzanlagen, um damit den Franken nicht zu stark werden zu lassen (das schadet den Exporteuren).

Atomstrom und ein abgeschotteter Markt

Der Schweizer Strommarkt weist mehrere Besonderheiten auf. Das Land ist Nettostromexporteur und produziert vor allem Strom aus Wasserkraft und mithilfe seiner Atomkraftwerke. Bei beidem haben sich die Produktionskosten kaum erhöht, während Österreich unter Kostenexplosion litt, weil verstromte Gas um so vieles teurer wurde. Ein zweiter Aspekt kommt im Falle der Schweiz hinzu, der Preise dämpft: Die Schweiz hat keinen liberalisierten Strommarkt für Haushalte, hat diese Entwicklung mit der EU nicht gemeinsam vollzogen. Die eidgenössische Elektrizitätskommission überwacht, ob die 630 unterschiedlichen Anbieter ihre Preise auch ja nicht zu stark anheben. Wie stark Preise steigen dürfen, ist den Anbietern in Bandbreite vorgegeben, die Kommission kann selbst durchgreifen und Netzbetreiber zu Preissenkungen verpflichten. Demgegenüber orientieren sich in Österreich die Anbieter an Marktpreisen, steigen die Strompreise stark an, verkauft auch der Wasserkraftwerksbetreiber teurer.

Auf der Alm stört die Inflation gewiss nicht.
EPA

Damit sich niemand täuscht: Auch in der Schweiz steigen die Energiepreise, aber durch die staatlichen Eingriffe geschieht dies zeitversetzt, wie Ökonom Rathke erklärt. Das sorgt dafür, dass die Energiekosten bei den Eidgenossen nicht so stark gestiegen sind. Das ändert sich nun. Preise für Haushaltsenergie werden heuer um 23 Prozent zulegen, im kommenden Jahr nochmals um zwölf Prozent. Die Inflationsrate dürfte damit in den kommenden Monaten wieder etwas über die Zwei-Prozent-Marke klettern, erwarten Ökonomen.

Zollburg Schweiz oder wieso Lebensmittel nicht so viel teurer wurden

Da die Schweiz nicht Mitglied des EU-Binnenmarktes ist, kann sie auf die Einfuhr von Lebensmitteln hohe Zölle einheben. Das tut sie auch. Die Zölle dienen dazu, die im Ausland gekauften Waren auf das Niveau der Erzeugerpreise in der Schweiz anzuheben. Sprich: Steigen Kosten für importierte Lebensmittel stark an, sinkt der Zollaufschlag. Diese Politik ist unterm Strich extrem teuer, weil Konsumentinnen und Konsumenten laufend mehr im Supermarkt für Lebensmittel bezahlen. Aber sie sorgt dafür, dass Preiserhöhungen für Rohstoffe und Lebensmittel nicht durchschlagen. Der wirtschaftsliberale Thinktank Avenir Suisse nennt die Schweiz jedenfalls eine "Zollburg". Im Ergebnis liegen die Schweizer Preise für Lebensmittel aktuell um 5,2 Prozent über dem Vorjahreswert. In Österreich beträgt das Plus etwa zwölf Prozent.

Der Schweizer Warenkorb ist etwas anders

Ein weiterer Faktor ist, dass der Warenkorb, mit dem die Inflation gemessen, wird, in der Schweiz eine etwas andere Zusammensetzung hat. Das Wiener Forschungsinstitut IHS hat sich vor kurzem angesehen und die Schweiz mit einigen anderen Euroländern verglichen. Der Anteil von Dienstleistungen am Warenkorb liegt in der Schweiz bei gut 60 Prozent, in Österreich, Deutschland und Frankreich beträgt dieser Anteil nur 45 Prozent. Im Umkehrzug ist der Anteil von Energie am Warenkorb in den drei Euroländern deutlich höher als bei den Eidgenossen. Sebastian Koch vom IHS erklärt die Folgen: Die Energiepreise in der Schweiz steigen nicht nur moderater an, sondern dieser Anstieg wirkt sich auch weniger stark auf die Inflation aus. Dazu kommt, dass die Preisentwicklung bei Dienstleistungen bisher verhaltener war.

Inflationsentwicklung Österreich versus Schweiz.

Auch dazu trägt eine Schweizer Besonderheit bei: So zahlen die Schweizer im internationalen Vergleich sehr viel für Gesundheitsversorgung aus eigener Tasche, rund ein Drittel der Kosten. In Österreich ist es weniger als ein Fünftel. Die Kosten für Gesundheitsversorgung werden in der Schweiz ebenfalls administriert, auch hier macht der Staat Vorgaben für Preise und lässt die Kosten nicht so schnell steigen. Der Anteil administrierter Preise liegt in der Schweiz bei insgesamt 30 Prozent und damit über dem EU-Durchschnitt von 13 Prozent.

Ein Mietpreisdeckel

Ein weiterer Sonderfaktor sind Mietpreise. Diese haben im Schweizer Warenkorb ein doch deutlich größeres Gewicht als in Österreich: In der Schweiz machen die Mietausgaben 15 Prozent aller Haushaltsausgaben im Warenkorb aus, in Österreich sind es nur etwas mehr als fünf Prozent. Warum diese großen Unterschiede existieren, können auch Statistiker in Österreich nicht genau sagen. Bei der Statistik Austria heißt es, dass der Anteil der Mieter in der Schweiz etwas höher ist und die Mieten etwas höher ausfallen. 

Was es in der Schweiz gibt – im Gegensatz zu Österreich: einen Mietpreisdeckel. Mietpreise dürfen dort nur steigen, wenn Hypothekenzinsen deutlich anziehen. Dann darf auch ein Teil der Teuerung draufgeschlagen werden, allerdings darf dieser Aufschlag nur 40 Prozent der Inflationsrate betragen. In den vergangenen Jahren waren die Mietpreise stabil, 2023 sorgen die steigenden Zinsen dafür, dass es nach oben geht.

Auch das wird dazu beitragen, dass die Inflationsrate nicht dauerhaft ganz so niedrig bleibt, sagt Ökonom Rathke in Zürich. Allerdings: Weil die Teuerung 2023 nur knapp über zwei Prozent liegen wird und schon im vergangenen Jahr deutlich niedriger war als in der Eurozone und in Österreich, entwickelt sich auch das Lohnwachstum verhaltener. Sprich: Auch Zweitrundeneffekte der Teuerung werden in der Schweiz geringer ausfallen. (András Szigetvari, 3.7.2023)