Maria Sterkl aus Jerusalem

Dschenin, Westjordanland
Dschenin, Westjordanland, am Montag.
EPA/ALAA BADARNEH

Palästinenserpräsident Mahmud Abbas hat den Kontakt und die Sicherheitskoordination mit Israel ausgesetzt. Das teilte Abbas' Büro am Montagabend mit. Die Entscheidung erfolgte nach einem Treffen von Abbas mit anderen führenden Vertretern der Palästinensischen Autonomiebehörde.

Bei einem umfangreichen Einsatz israelischer Truppen mit Drohnen und Hunderten Soldaten im besetzten Westjordanland waren zuvor nach palästinensischen Angaben mindestens acht Menschen getötet worden. Im Tagesverlauf waren immer wieder Schüsse und Explosionen aus der Stadt Dschenin zu hören, wo sich die israelischen Truppen und die Kämpfer der militanten Dschenin-Brigaden Gefechte lieferten. Abbas hat die Koordinierung mit Israel in der Vergangenheit bereits mehrfach während früherer Gewaltausbrüche vorübergehend ausgesetzt.

Monatelang vorbereiteter Militärschlag

Gegen ein Uhr hatte die Nachtruhe in der palästinensischen Stadt Jenin im Norden des Westjordanlandes am Montag ein jähes Ende gefunden. Israels Streitkräfte setzten zu einem Militärschlag an, der monatelang vorbereitet worden war: Hunderte Soldaten und Kräfte der Eliteeinheiten rückten ein, um kontinuierlich ins Flüchtlingslager der Stadt vorzurücken.

Video: Luftangriff im besetzten Westjordanland.
AFP

Unterstützt wurden sie aus der Luft mit Drohnen und Hubschraubern. Bulldozer gruben Zufahrtsstraßen zum Flüchtlingslager auf, entsicherten Sprengkörper. Die Zahl der palästinensischen Opfer stieg stündlich.

Es ist ein äußerst heikler Einsatz, der viele in der Militärinfrastruktur nervös macht: Binnen Stunden könnte das, was als punktuelle Operation angelegt war, in einen Flächenbrand ausarten. Terrorverbände in anderen Städten des Westjordanlandes könnten neue Fronten eröffnen. Israels Luftabwehrsystem ist für Raketenbeschuss aus Gaza und aus dem Libanon gerüstet.

Hamas-Führer Ismail Haniyeh hatte erklärt, dass "das Blut, das in Jenin vergossen wird, den Charakter der nächsten Phase bestimmen wird". Anders gesagt: Je höher die Opferzahl, desto mehr Kampffronten wird man eröffnen. Ein Abbas-Sprecher bezeichnete den Einsatz als "ein neues Kriegsverbrechen gegen unser wehrloses Volk"

Armee warnte zunächst

Israels rechts-religiöse Regierung hatte die Armee bereits vor zwei Wochen zu dem Schlag in Jenin gedrängt. Auslöser war ein Attentat nördlich von Ramallah, das vier Israelis das Leben kostete. Die Armee stellte sich damals dagegen, sie warnte vor voreiligen Schritten. Nun schien man bereit zu sein. Dass die Offensive auf jenen Tag fiel, an dem die Wiederaufnahme der Massenproteste gegen die Regierung die Schlagzeilen dominieren sollte, könnte ein Zufall sein.

In Israel haben am Montag etliche Gegner der Justizreform am Flughafen Ben Gurion bei Tel Aviv demonstriert. Nach Medienangaben kamen Zehntausende Menschen zu der Kundgebung. Auch in anderen Städten des Landes waren Protestaktionen geplant. In der Küstenstadt Haifa hatten am Morgen Hunderte zeitweise den Hafen blockiert.

Israelische Proteste gegen Justizreform

Medien berichteten, Sicherheitskräfte hätten Demonstranten mit Gewalt aus der Ankunftshalle des Flughafens gedrängt. Es sei zu Zusammenstößen gekommen, fast 40 Menschen seien festgenommen worden. Israels rechtsextremer Polizeiminister Itamar Ben-Gvir hatte die Polizei vor dem Protest aufgefordert, nicht vor "Randalierern" und Menschen, "die die Demokratie untergraben wollen", zu kapitulieren.

Die Regierung geht den Umbau des Justizsystems, dessen Ziel es ist, das oberste Gericht des Landes zu schwächen, nach einer Unterbrechung derzeit wieder an. Die Regierung wirft den Richtern übertriebene Einmischung in politische Entscheidungen vor. Kritiker sehen die Gewaltenteilung und die demokratische Ordnung in Gefahr. Seit Monaten kommt es im Land regelmäßig zu Massenprotesten gegen das Vorhaben.

Menschen protesieren in Haifa gegen die Justizreform.
Proteste gegen die Justizreform in Haifa.
IMAGO/ZUMA Wire/Eyal Warshavsky

Jenin gilt den Militärs als "Schutzbunker der Terroristen"

Wie groß die Sorge nach dem Militäreinsatz in Jenin ist, dass die Lage außer Kontrolle gerät, lässt sich an der Begleitkommunikation ablesen. Militär- und Regierungsvertreter beteuerten am Montag, die Offensive "zielt nicht auf die Palästinenserbehörde ab, sondern allein auf die Terrororganisationen". Diese, so hieß es, würden schließlich auch den Palästinensern das Leben schwer machen. Diese Erklärungen dienen vor allem dazu, die Kampfzone zu begrenzen.

Jenin gilt den Militärs als "Schutzbunker der Terroristen". Die palästinensische Polizei hat die Stadt längst aufgegeben, die einzigen Uniformierten, die man dort sieht, sind israelische Soldaten, deren Einsätze meist von intensiven Schusswechseln begleitet sind. Der aktuelle Einsatz habe das Ziel, so die Armee, "die Abschreckung in Jenin wiederherzustellen".

Man versuche dabei so weit wie möglich, nur terroristische Infrastruktur zu treffen und die Zivilbevölkerung zu verschonen, betont der Armeesprecher. Die humanitäre Organisation Ärzte ohne Grenzen hält dieses Missionsziel für verfehlt. Deren Koordinatorin vor Ort, Jovana Arsenijevic, berichtete von dutzenden teils schwer verletzten Patienten und schweren Behinderungen bei der Erstversorgung. Mehrere Gaskanister seien auf den Innenhof des Khalil-Suleiman-Spitals abgeworfen worden, in dem Ärzte ohne Grenzen seit zwei Uhr morgens Verwundete versorge. Weitere Verletzte könnten nicht ins Spital gebracht werden, weil die Zufahrt zum Flüchtlingslager blockiert sei. (Maria Sterkl aus Jerusalem, Reuters, red, 3.7.2023)