Paris – Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat nach den tagelangen Unruhen im Land "grundlegende Antworten" versprochen. Im Kampf gegen weitere Unruhen zog er bei einem Treffen mit Bürgermeistern und Bürgermeisterinnen auch eine Blockade von Onlinemedien in Betracht. Man müsse über die Nutzung sozialer Netzwerke durch die protestierenden Jugendlichen und mögliche Verbote nachdenken, sagte Macron bei dem Treffen laut dem Sender BFMTV.

"Und wenn die Dinge aus dem Ruder laufen, muss man sich vielleicht in die Lage versetzen, sie zu regulieren oder abzuschalten. Das sollte man auf keinen Fall im Eifer des Gefechts tun, und ich bin froh, dass wir das nicht tun mussten", sagte Macron bei dem Treffen mit 241 Bürgermeistern der von den Ausschreitungen besonders betroffenen Städte.

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron traf sich mit Bürgermeistern seines Landes.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron traf sich mit Bürgermeistern seines Landes.
IMAGO/Blondet Eliot/ABACA

Bereits am Freitag hatte Macron auch die sozialen Netzwerke für die Gewalteskalation bei den Protesten gegen Polizeigewalt verantwortlich gemacht. Dort seien gewalttätige Versammlungen organisiert worden. Nun sagte Macron, über den Umgang mit sozialen Medien müsse in Ruhe nachgedacht werden. "Denn wenn es zu einem Instrument für Versammlungen oder für den Versuch zu töten wird, ist es ein echtes Thema."

Bei einem Treffen mit den Bürgermeistern sagte Macron, es gehe nicht darum, seit Jahrzehnten praktizierte Dinge zu wiederholen. Nötig sei eine "Antwort auf der Höhe dessen, was wir erlebt haben".

Weiterer Mann bei Ausschreitungen in Marseille getötet

Die gewaltsamen Unruhen sind inzwischen weiter abgeflaut. Allerdings wurde am Mittwoch bekannt, dass die Justiz im Fall eines 27-Jährigen ermittelt, der möglicherweise bei Krawallen in Marseille durch ein Gummigeschoss der Polizei getötet wurde. Der Mann habe in der Nacht auf Sonntag einen "heftigen Schlag im Brustbereich" erlitten, der von einem "Projektil vom Typ Gummigeschoss" verursacht worden sei. Der Aufprall habe demnach zum Herzstillstand geführt. Es sei aber unklar, ob es einen Zusammenhang mit den Unruhen gebe. Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen Körperverletzung mit Todesfolge durch eine Waffe. Auch die Polizei-Aufsichtsbehörde sei eingeschaltet, hieß es aus Ermittlerkreisen.

Erneut waren landesweit 45.000 Sicherheitskräfte im Einsatz. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hatte am Vortag bekräftigt, dass die massive Polizeipräsenz beibehalten werde. Seit Beginn der Unruhen am 27. Juni wurden insgesamt etwa 3.600 Menschen festgenommen, unter ihnen knapp ein Drittel Minderjährige. Etwa 480 wurden einem Richter vorgeführt, 380 von ihnen kamen in Haft. In Paris konfiszierte die Polizei am Dienstagabend etwa 400 Kilogramm Feuerwerkskörper, die von Randalierern häufig im Internet bestellt und als Geschosse genutzt werden.

Pariser Polizei beschlagnahmte 300 Kilo Feuerwerkskörper

Unterdessen wurden in Nordfrankreich die Kontrollen an der Grenze zu Belgien verstärkt, um die Einfuhr von Feuerwerkskörpern zu stoppen, berichtete die Zeitung "Le Parisien" am Dienstagabend unter Verweis auf die Präfektur. Verhindert werden solle, dass sich die Krawallmacher mit Nachschub an Böllern eindecken. Im Zuge der Krawalle wurden Beamte mit Feuerwerkskörpern angegriffen und öffentliche Gebäude wie Polizeiwachen und Schulen in Brand gesetzt.

Beiderseits der Grenze seien bereits Menschen mit Pyrotechnik gestoppt worden. In etlichen Regionen Frankreichs gilt derzeit ein Verbot zum Verkauf und Mitführen von Pyrotechnik und anderen gefährlichen Stoffen.

Ein Feuerwerkskörper explodiert in Nizza.
Ein Feuerwerkskörper explodiert in Nizza.
AFP/VALERY HACHE

Die Pariser Polizei hat bei einer Verkehrskontrolle 300 Kilogramm Feuerwerkskörper beschlagnahmt. Die Pyrotechnik wurde im Kofferraum eines Wagens im 18. Arrondissement entdeckt, teilte die Polizeipräfektur am Dienstagabend mit. Fotos zeigten einen bis unter das Dach mit Kartons voller Feuerwerk gefüllten Kleintransporter. Drei Personen wurden nach Angaben der Polizei festgenommen. Die Kontrollen sollten fortgesetzt werden.

Mehr als 3.400 Festnahmen

Nach Regierungsangaben wurden in den vergangenen Tagen mehr als 3.400 Menschen bei Ausschreitungen festgenommen. 684 Polizisten und Feuerwehrleute seien verletzt worden. Der Höhepunkt der Ausschreitungen sei überschritten, sagte der Präsident, obwohl in den kommenden Tagen und Wochen weiterhin Vorsicht geboten sei. "Es ist die dauerhafte Ordnung, die wir als oberste Priorität angehen müssen."

Seit dem Tod des 17-jährigen Nahel durch eine Polizeikugel bei einer Verkehrskontrolle am Dienstag vergangener Woche wurde Frankreich von schweren Krawallen erschüttert. Wiederholt kam es zu Plünderungen, Brandanschlägen und gewaltsamen Konfrontationen zwischen Polizisten und Randalierern. In der Nacht auf Mittwoch kamen laut Innenministerium nur noch 16 Menschen in Polizeigewahrsam, acht Gebäude wurden beschädigt. Es gab etwa 200 Brände im öffentlichen Raum, knapp 160 Fahrzeuge brannten ab.

Premierministerin will Ruhe im Land wiederherstellen

Premierministerin Élisabeth Borne beriet am Dienstag mit den Fraktionsvorsitzenden beider Parlamentskammern über die Krise. Am wichtigsten sei nun, die Ruhe im Land wiederherzustellen mit massiver Polizeipräsenz und einem entschiedenen Vorgehen der Justiz, sagte Borne. Laut dem Sender BFMTV wurden erste Beteiligte bereits im Schnellverfahren verurteilt, unter anderem zu Haftstrafen mit elektronischer Fußfessel.

Gegen den Beamten, der den Schuss auf den Jugendlichen abgab, wird wegen Totschlagverdachts ermittelt. Frankreich sei ein Rechtsstaat und auch die Polizei an Gesetze gebunden, betonte die Regierung am Montag. Die Polizei habe aber keine systemischen Probleme mit Rassismus oder leichtfertigem Einsatz von Schusswaffen.

Frankreichs Premierministerin Élisabeth Borne.
Frankreichs Premierministerin Élisabeth Borne will die Ruhe im Land wiederherstellen.
REUTERS/STEPHANIE LECOCQ

Gerade in den vergangenen Tagen habe sie vielmehr Professionalität und Augenmaß bewiesen - trotz heftiger Ausschreitungen seien weder Randalierer noch Beamte zu Tode gekommen. Der Tod des Jugendlichen sei gleichwohl tragisch und bewege verständlicherweise die Gemüter. Auf Forderungen nach einer Polizeireform ging die Regierung bisher nicht ein.

Nahel soll gesagt haben: "Der ist verrückt, der hat geschossen"

In dem von der Polizei gestoppten Wagen hatten sich laut neuen Details drei Jugendliche befunden. Die Zeitung "Le Parisien" veröffentlichte am Montagabend Schilderungen des Hergangs aus der Sicht eines 14-Jährigen, der auf der Rückbank saß, und die dessen Vater schriftlich der Zeitung übermittelte. Nahel traf den Buben demnach zufällig morgens und bot ihm an, ihn mit dem Auto zu einer Schulprüfung zu fahren.

Einer ersten Aufforderung der Polizei zum Anhalten habe der 17-Jährige nicht Folge geleistet, berichtete der Bub. Als der Verkehr stockte, hätten die Polizisten das Auto eingeholt und ihre Waffen auf den 17-Jährigen gerichtet. Einer habe dabei gedroht, ihm in den Kopf zu schießen. In Panik sei Nahel möglicherweise mit dem Fuß von der Bremse des Automatik-Wagens gerutscht, sodass dieser sich in Bewegung setzte. Der eine Beamte habe den anderen zum Schießen aufgefordert. "Der ist verrückt, der hat geschossen", habe Nahel noch gesagt, ehe er leblos zusammengesackt und der Wagen in eine Absperrung gefahren sei. (APA, red, 5.7.2023)