Klaus Stimeder aus Odessa

Wolodymyr Dubowyk gilt als einer der renommiertesten Politikwissenschafter seines Landes. Kurz nach Beginn der Invasion Russlands in der gesamten Ukraine verließ der Direktor des Zentrums für Internationale Studien an der Odessa Mechnikov National University die Ukraine Richtung USA. Seitdem lehrt er im Rahmen der Initiative "Scholars at Risk", eines internationalen Programms, das Akademikern aus vom Krieg zerrütteten Ländern hilft, als Gastprofessor an der Tufts University in Medford, Massachusetts. Im Laufe seiner Karriere lehrte und forschte der zweifache Fulbright-Stipendiat mit Spezialgebiet Außenpolitik und Sicherheit der Ukraine und der Schwarzmeerregion unter anderem am Woodrow Wilson International Center in Washington, D.C., und am Center for International and Security Studies der University of Maryland.

STANDARD: Herr Dubowyk, das sogenannte Getreideabkommen, das der Ukraine den Export eines Teils ihrer Agrarprodukte auf dem Seeweg ermöglicht, gilt als Überbrückungslösung mit ungewissem Ablaufdatum. Wie hoch stehen die Chancen, dass der von der Türkei und der Uno vermittelte Deal mittel- und langfristig Bestand hat?

Dubowyk: Ich glaube, dass das Getreideabkommen kurzfristig halten wird, vor allem dank der Türkei – aber mittel- und langfristig kann man nichts mit absoluter Sicherheit vorhersagen. Wie sich im Laufe des Kriegs immer wieder gezeigt hat, tun die Russen manchmal Dinge aus reiner Bösartigkeit, nur um Schaden anzurichten. Die ukrainische Wirtschaft leidet schon jetzt schwer unter der Invasion, und die Russen könnten irgendwann sagen: "Okay, jetzt machen wir ihnen endgültig den Garaus, indem wir auch noch ihre Agrarexporte blockieren."

STANDARD: Hat die Wiederwahl Recep Tayyip Erdoğans Konsequenzen für den Getreidedeal?

Dubowyk: Ich denke nicht, und ich glaube auch nicht, dass sich durch die Wahl von Kemal Kılıçdaroğlu daran etwas geändert hätte. Die meisten Türken sind sich einig, dass das Abkommen einen großen Erfolg für ihre Diplomatie darstellt und dass der Deal den Status des Landes in der Region stärkt. Ich bin erst vor ein paar Wochen mit einer Studierendengruppe in die Türkei gereist und habe dort mit vielen Politikern und Akademikern gesprochen. Der allgemeine Tenor war, dass die Leute das Abkommen als Zeichen dafür sehen, dass die Türkei in der Lage ist, eine Führungsrolle in der Region wahrzunehmen.

Wolodymyr Dubowyk forscht und lehrt heute in den USA.
Privat

STANDARD: Was ist Russlands Anreiz, an dem Abkommen festzuhalten?

Dubowyk: Davon abgesehen, dass der Kreml auch seine eigenen Wirtschaftsinteressen wahren will, nutzt er den Getreidedeal, um zumindest einen direkten Verhandlungskanal aufrechtzuerhalten, an dem auch westliche Akteure beteiligt sind. Die Wahrheit ist aber auch, dass es im Gegensatz zu den ersten Kriegsmonaten heute äußerst schwierig wäre, eine Blockade der Lieferungen aus der Ukraine durchzusetzen. Russlands Schlachtschiffe können heute nicht mehr einfach so in die Nähe der Küste kommen, weil wir jetzt über eine ausreichende Menge an Anti-Schiff-Raketen verfügen. Dazu kommt, dass die Blockade von mit Getreide beladenen Schiffen in internationalen Gewässern von der Weltgemeinschaft verurteilt werden würde. Die Russen haben zwar immer noch Hebel, um das Abkommen zu sabotieren. Derzeit bleibt ihnen aber nichts anderes übrig, als den Inspektionsprozess zu verlangsamen, so wie sie es seit Monaten tun.

STANDARD: Wenn man heute manchen ukrainischen Regierungsvertretern zuhört, bekommt man den Eindruck, dass der EU- und Nato-Beitritt des Landes unmittelbar bevorsteht. Ist diese Rhetorik auf lange Sicht nicht gefährlich, weil viele Menschen enttäuscht sein werden, wenn es nicht in absehbarer Zeit dazu kommt?

Dubowyk: Auch wenn diese Rhetorik da und dort unrealistische Erwartungen hervorrufen mag, gibt es dazu keine Alternative. Wenn Sie Teil der Regierung sind, müssen Sie den Menschen versichern, dass es eine Beitrittsperspektive zu EU und Nato gibt. Gleichzeitig muss man ihnen erklären, dass es dabei um komplexe bürokratische Prozesse und Standards geht und dass unser Land bestimmte Kriterien erfüllen und Regeln befolgen muss – und Letzteres kommt leider oft zu kurz. Die Verleihung des EU-Kandidatenstatus war ein riesiger Fortschritt, aber er war am Ende mehr eine Anerkennung des heldenhaften Widerstands der Ukraine als alles andere. Andererseits: Wenn die Regierung den Druck auf die EU und die Nato nicht aufrechterhält und ihren unbedingten Willen zum Beitritt nicht ständig betont, wird es nie nennenswerte Fortschritte geben.

STANDARD: Welche Rolle spielen die EU und die Nato selbst bei der Lösung dieses Problems?

Dubowyk: Glücklicherweise arbeiten die höchsten EU-Repräsentanten heute sehr eng mit der Ukraine zusammen. Ursula von der Leyen hat sich in diesem Zusammenhang als wirklich herausragende Führungspersönlichkeit erwiesen. Sie sagt der ukrainischen Regierung ganz genau, was sie zu tun hat, um die Chancen des Landes auf den Beitritt voranzutreiben. Was die Nato angeht: Ich glaube nicht, dass die Ukraine bald zum Vollmitglied werden wird. Aber sie wird vielleicht eine Art Spezialstatus bekommen, der einer Mitgliedschaft sehr nahekommt. Wir arbeiten schon jetzt in einem beispiellosen Ausmaß und so intensiv mit der Nato zusammen, dass diese Zusammenarbeit in Wirklichkeit nur mehr formalisiert werden muss.

Getreideexporte sind überlebenswichtig – vor allem für die ukrainische Wirtschaft.
Nato

STANDARD: Während die Aufmerksamkeit des Westens auf der Ukraine und Russland liegt, zeitigt der Krieg in der gesamten Schwarzmeerregion Konsequenzen, am sichtbarsten vielleicht in Georgien. Die dortige Regierung hält sich mit der Verurteilung der Invasion bisher zurück und hat jüngst sogar wieder Direktflüge von und nach Moskau erlaubt. Warum?

Dubowyk: Ich glaube, dass Georgien versteht, dass Russland zwar schwach, aber immer noch sehr gefährlich ist und das Land destabilisieren kann. Es fühlt sich an, als ob die georgische Regierung den Bären nicht anstupsen will. Er mag erschöpft sein, und er blutet, aber er ist immer noch quicklebendig. Wir dürfen in diesem Zusammenhang nicht vergessen, dass hunderttausende Russen seit Beginn der Invasion nach Georgien gegangen sind. Man kann deshalb getrost davon ausgehen, dass es sich bei manchen von ihnen um professionelle Provokateure handelt, die auf die Destabilisierung anderer Länder spezialisiert sind.

STANDARD: Ist die Behandlung des inhaftierten georgischen Ex-Präsidenten Michail Saakaschwili, dessen Anwälte sagen, dass er wie der russische Dissident Alexej Nawalny in Russland langsam vergiftet werde, also nur eine weitere Manifestation dieser Haltung?

Dubowyk: Es scheint tatsächlich so, als ob jemand versucht, sich an Saakaschwili zu rächen. Er ist eine komplizierte Figur: Als Gouverneur von Odessa (2015–2016, Anm.) ist er gescheitert, auch wenn er bei den Leuten beliebt war – aber es gibt immer noch viele Georgier, die ihm zugutehalten, dass sich das Land während seiner Amtszeit (2004–2013, Anm.) massiv weiterentwickelte. Es gab damals deutliche Fortschritte, etwa bei der Korruptionsbekämpfung. Für mich ist es bis heute ein Rätsel, warum Saakaschwili nach Georgien zurückging. Es war klar, dass dort Anklage gegen ihn erhoben werden würde, genauso wie im Fall Nawalnys in Russland. Jetzt scheint es, als ob er in großer Gefahr ist, im Gefängnis zu sterben. Aber auch wenn sein Tod die Probleme der georgischen Regierung verschärfen würde, fürchte ich, dass sich am Status quo dort nichts ändern wird. (Klaus Stimeder aus Odessa, 5.7.2023)