Klaus Stimeder aus Odessa

Kürzere Wege, mehr Komfort, weniger Bürokratie: In einem Interview mit dem russischen Propagandasender RTVI machte Tamaz Gaiashvili, Gründer der Fluglinie Georgian Airways, keinen Hehl aus seiner Freude darüber, russischen Staatsbürgern künftig das Reisen nach Europa zu erleichtern. Bisher mussten diese wegen der EU-Sanktionen den Umweg über Belgrad, Istanbul, Eriwan oder Dubai nehmen. Seit Mitte Juni können sie auch am Flughafen Tiflis direkt nach der Ankunft aus Moskau und Sankt Petersburg umsteigen, ohne lange Wartezeiten in Kauf nehmen zu müssen.

Laut Gaiashvili, der dafür jetzt von der Ukraine mit Sanktionen belegt wurde, wird Georgian Airways sie von dort umstandslos weiter nach Mailand, Paris, Larnaca und Thessaloniki befördern – und nach Wien. "Der Flughafen kann einer Airline nicht untersagen, hier zu landen. Wenn eine Airline alle verkehrsrechtlichen Vorschriften einhält und über die nötigen Slots verfügt, steht einer Landung nichts entgegen", sagt dazu Peter Kleemann, der Sprecher der Flughafen Wien AG.

Die vom Kreml als politischer Coup gefeierte Bedienung der Russland-EU-Route via Tiflis bildet nur das vorläufig letzte Stück eines Puzzles, das zusammengefügt in Brüssel, London und D.C. zunehmend für Irritationen sorgt. Seit dem Beginn der russischen Invasion der gesamten Ukraine am 24. Februar 2022 findet sich auch Georgien, das offiziell der EU beitreten will, im Mittelpunkt der Spannungen zwischen dem Westen und der Diktatur Wladimir Putins wieder.

Ein Ringen, bei dem Moskau dank einer ihm offen freundlich gesinnten Regierung in Tiflis mittlerweile einen Vorteil genießt. In der Liste der Belege für diese These stellt das Angebot neuer Flugverbindungen für Russinnen und Russen, die in die EU einreisen wollen, nur die Spitze eines Eisbergs dar, der ständig im Wachstum begriffen ist.

Engere Bande

Ende Mai nannte der georgische Premierminister Irakli Garibashvili im Rahmen des Global Security Forums in Bratislava die Nato-Osterweiterung "einen der Hauptgründe für die russische Invasion der Ukraine". Schon zuvor hatte sich seine Regierung gegen jegliche Sanktionierung Russlands ausgesprochen. Eine Haltung, für die sie Wladimir Putin jetzt unter anderem mit einer Aufhebung der Visapflicht für die rund 3,7 Millionen georgischen Staatsbürger belohnte. Auch informell werden die Bande zwischen Georgien und Russland zunehmend enger.

Mitte Mai feierte Katerina Winokurowa, die Tochter des russischen Außenministers Sergej Lawrow, in einem Luxus-Resort am Chala-See im Osten Georgiens die Hochzeit ihres Schwagers. Die in den USA geborene Winokurowa, eine Absolventin der New Yorker Eliteuniversität Columbia, ist mit dem Geschäftsmann und Cambridge-Alumnus Alexander Winokurow verheiratet. Weil Letzterer als einer der maßgeblichen Finanziers des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine gilt, landete sein Name Anfang März 2022 als einer der ersten auf der Sanktionsliste der EU.

Um kein Aufsehen zu erregen, war das Paar laut dem Fernsehsender Mtavari in einer Nacht-und-Nebel-Aktion eingereist – beschützt von Beamten der georgischen Staatssicherheit und des Innenministeriums. Als die Chose bekannt wurde und sich vor dem Eingang des Kvareli Lake Resorts eine Hundertschaft Protestierender einfand, ergriff das Paar die Flucht; zuerst zurück nach Russland und von dort weiter nach Saudi-Arabien. Die Ereignisse am Chala-See verdeutlichten aber auch einmal mehr, dass viele Angehörige der georgischen Zivilgesellschaft nicht bereit sind, den zunehmend prorussischen Kurs ihrer Regierung mitzutragen.

Widerstand der Zivilgesellschaft

Zu Massenprotesten dagegen kam es zuletzt Anfang März in Tiflis. Damals wollten Garibashvili und die Seinen ein Gesetz verabschieden, das "ausländischen Einflüssen" Einhalt gebieten sollte. Konkret ging es darum, dass sich jede Nichtregierungsorganisation, die mehr als 20 Prozent ihres Budgets aus Quellen im Ausland lukriert, in einem öffentlich einsehbaren Register als "Agent unter ausländischem Einfluss" deklarieren muss. Ein Gesetz, das die Demonstranten als Teil eines Plans der Regierung interpretierten, den georgischen Staat nach Vorbild des russischen umzubauen. Weil der Druck der Straße am Ende zu groß war, zogen es die Initiatoren binnen vier Tagen zurück. Vorläufig, wie im Anschluss mehrere Abgeordnete der Regierungspartei Georgischer Traum betonten.

Letztere stellen im Parlament 75 von insgesamt 150 Abgeordneten. Ihre wahre Macht zeigt sich indes auf Ebene der Regionalregierungen. Bis auf eine der de facto 64 kommunalen Verwaltungseinheiten Georgiens – de facto deshalb, weil Abchasien und Südossetien seit der russischen Invasion des Landes 2008 unter russischer Kontrolle stehen – stellt der Georgische Traum alle Bürgermeister im Land. Beachtlich für eine Partei, die noch kein Dutzend Jahre alt ist und für ein Land, das bis vor einem Jahrzehnt noch als prononciert westlich orientiert galt.

Gegründet wurde sie 2012 von dem Milliardär Bidzina Ivanishvili, der bis 2013 als Premierminister diente. Auch wenn der 67-Jährige offiziell keine politische Funktion mehr innehat, gilt es in Tiflis als offenes Geheimnis, dass die Regierung keine Entscheidung fällt, die der georgisch-französische Doppelstaatsbürger – bis 2011 besaß Ivanishvili auch einen russischen Pass – nicht vorher abnickt. Sein Vermögen machte der reichste Mann Georgiens in den Neunzigern in Moskau. Mit Startkapital, das Ivanishvili mit dem Handel von Computern und der Einführung des Tastentelefons in Russland gemacht hatte, stieg er zunächst in den Metallhandel und dann ins Bankengeschäft ein. 1996 zählte er zu jener Gruppe von Oligarchen, die maßgeblich die Kampagne zur Wiederwahl von Boris Jelzin finanzierte.

Demonstration in Tiflis für die Begnadigung von Ex-Präsident Saakashwili.
Vano SHLAMOV / AFP

Ex-Präsident in Haft

In den Nullerjahren unterstützte er die sogenannte Rosenrevolution, die der Autokratie von Eduard Shevardnadse ein Ende setzte und in deren Folge Michail Saakaschwili die Macht ergriff. Der zwischen 2004 und 2013 fast durchgehend regierende Präsident schwor das Land auf einen westlich orientierten Kurs ein, verkalkulierte sich aber im Konflikt um Abchasien und Südossetien schwer.

Obwohl Georgiens Wirtschaft unter Saakaschwili lange boomte und er sich einen Namen als Kämpfer gegen die Kleinkorruption machte, setzte sich Ivanishvilis Partei bei den Parlamentswahlen 2012 dank dessen finanzieller Ressourcen und dem Versprechen durch, die Beziehungen zu Russland zu "normalisieren". Was seitdem passiert, geht über diese Normalisierung aber weit hinaus. Wie nicht zuletzt der Umgang mit Ex-Präsident Saakaschwili zeigt.

Der 55 Jahre alte Ex-Chef der Partei Vereinigte Nationale Bewegung, der als so streitbar wie erratisch gilt und es nach seinem Ausscheiden aus dem Präsidentenamt in keinem seiner Jobs lange aushielt – unter anderem diente er unter Präsident Petro Poroschenko kurz als Gouverneur von Odessa –, war Ende 2021 nach Georgien zurückgekehrt. Dort landete er umgehend im Gefängnis. Vorgeworfen wird Saakaschwili eine Fülle an Vergehen, die von Amtsmissbrauch über Betrug bis zur Veruntreuung von Staatseigentum und der illegalen Einreise reichen.

Saakaschwili, der von den Behörden abgeschirmt wird und dessen Gesundheitszustand sich, wie von seinen Anwälten zirkulierte Videos zeigen, seit seiner Inhaftierung extrem verschlechtert hat, weist alle Vorwürfe als "politisch motiviert" zurück. Eine Einschätzung, die von Brüssel und Washington ebenso geteilt wird wie von Kiew. Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte Saakaschwili 2019 die ukrainische Staatsbürgerschaft verliehen, die er schon zwischen 2015 und 2017 innehatte. Anfang Juli zitierte die ukrainische Regierung den georgischen Botschafter zu sich und schickte ihn dann für Konsultationen nach Hause, um den Druck auf Tiflis zu erhöhen. Ziel: die Auslieferung Saakaschwilis an die Ukraine.

Opposition wandte sich ab

In Georgien halten sich die Proteste gegen seine Behandlung derweil in Grenzen. Die Opposition, die auch nach drei Wahlniederlagen in Folge seit 2012 keinen gemeinsamen Nenner findet, hat sich nahezu geschlossen von ihm abgewandt. Als Konsequenz ruhen die Hoffnungen derer, die Georgiens Marsch zurück in die Arme der "Russischen Welt" fürchten, auf der Zivilgesellschaft – laut Umfragen wollen rund zwei Drittel der Georgier das Land als EU-Mitglied sehen – und auf der parteiunabhängigen Präsidentin Salome Zourabichvili.

Die ehemalige französische Botschafterin in Tiflis, die in den Nullerjahren die georgische Staatsbürgerschaft annahm und unter anderem Saakaschwili als Außenministerin diente, wurde 2018 gewählt. Wiewohl sie für ihren Amtsvorgänger heute nichts mehr übrig hat – die 71-Jährige bekannte wörtlich, ihn "niemals zu begnadigen" –, gilt sie vielen Georgiern, was die institutionellen Checks und Balances des politischen Systems des Landes angeht, immer noch quasi als Bastion gegen die prorussischen Kräfte.

Ob die westlich orientierten Bürgerinnen und Bürger Georgiens gegen Ivanishvili, seine Partei und deren Freunde im Kreml aber mittelfristig ankommen werden, darf allein angesichts der monetären Macht der grauen Eminenz des "Georgian Dream" bezweifelt werden. Nämliche wird von "Forbes" auf rund fünf Milliarden Dollar geschätzt. Ende Mai könnte noch mehr dazukommen. Im Zug der Credit-Suisse-Pleite verdonnerte der Singapore International Commercial Court das (mittlerweile zur UBS-Gruppe gehörende) Institut wegen Missmanagements und Betrugs zu einer Schadenersatz- und Wiedergutmachungszahlung von fast einer Milliarde Dollar an Ivanishili. (Klaus Stimeder aus Odessa, 10.7.2023)